MANN UND FRAU

DREISZIG


Ich stand vor mir selbst und betrachtete mich. Ich war so vertieft in meinen Anblick, daß es mir einen Moment lang vorkam, als ob das Spiegelbild mein wahres Ich wäre, das da dieses halbnackte Wesen im Badezimmer begutachtete. Dann kam ich wieder zu mir selbst - vor dem Spiegel.
Eigentlich war ich gar nicht so unzufrieden, weder mit meiner Person, noch mit dem Abbild gegenüber. Die Pupillen waren von dem nicht allzu hellen Licht vergrößert, zwei dunkle Punkte, die unergründlich in mein Innerstes führten. Zwei kleine Sterne am oberen Rand der mystischen Eingänge zu meinem Ego spiegelten die Lampe an der Decke wieder.
Um einen Teil dieser dramatischen Selbsterkenntnis wettzumachen, sah ich schnell auf die grau und grün gesprenkelte Iris meiner Augen, die jetzt, beim Schärfen des Blicks, plötzlich breiter wurde. Um aber wieder ganz zum Alltag zurückzufinden, blinzelte ich schnell mit dem linken Auge - ein rasches Zucken nur, sodaß man nicht sicher sein konnte, ob es überhaupt dagewesen war. Dieses Blinzeln hatte schon zu manchem kleinen Flirt im Autobus geführt, oder aber ein verschämtes zur-Seite-drehen eines Mädchenantlitzes verursacht.
Jetzt schloß ich das Auge ganz, noch immer das linke, bei dem meine ganze Virtuosität zutage kommt. Mit dem rechten bin ich nicht viel mehr als Amateur. Die langen Wimpern waren vielleicht mein größter Zugang. Nicht nur einmal bin ich darum beneidet worden.
Ich muß hier einfügen, daß ich wohl eitel bin, und mir meines Aussehens wohl bewußt, doch daß es nicht zu meiner täglichen Routine gehört, mein Äußeres so eingehend zu betrachten. Ich hatte einen sehr triftigen Grund dafür, doch dazu kommen wir später.
Einstweilen glitt mein Blick über die Augenbrauen, durch ein paar seidene Härchen miteinander verbunden, die rechte von ihnen jedoch ein wenig höher gewölbt. Als Ausgleich dazu bot meine Stirn - beim Runzeln derselben, was ein Zeichen des Erstaunens oder der Mißbilligung sein kann - bot sie also auf der linken Seite drei Falten, rechts dagegen nur zwei.
Das nächste Plus verzeichnete ich, als ich zu meinen dunkelbraunen Haaren kam, die, wohlgescheitelt, mitten auf dem Haupt zwei mächtige - natürliche - Wellen bildeten. An beiden Seiten, den Ohren entlanglaufend, musterte ich die mit der Trimmschere des Elektrorasierers so sorgfältig gestutzten Koteletten, die in der Höhe der Ohrläppchen einen gegebenen Abschluß fanden.
Nun tat ich etwas, was ich zu unterlassen pflege, da es im Spiegel ohne Hilfsmittel nicht ersichtbar und daher auch nicht ärgererweckend ist: ich nahm den Handspiegel meiner Frau und hielt ihn hinter meinen Kopf, um so, zweimal gespiegelt, einen Anblick der hinteren Bereiche der Haartracht zu erhaschen.
Kopfschüttelnd, was dem doppelten Spiegelbild nicht gerade gut tat, mußte ich mir eingestehen, daß der Kopfschmuck in diesen Regionen stellenweise schon sehr schütter, um nicht zu sagen spärlich war. Ich beschloß im Stillen mehr Bier zu trinken, das sollte ja dem Haar gedeihlich sein.
Den einen Spiegel zurücklegend, sah ich im anderen, wie sich links von der Nase - rechts davon bei meinem Gegenüber - eine Furche zum Mundwinkel gezogen hatte, zusammen mit einem, oder besser gesagt, gerade durch ein leichtes Rümpfen jener. Daraus schloß ich, daß es wohl besser wäre meiner Frau zu sagen, daß sie den Handspiegel lieber verstecken solle, wolle sie ihn noch längere Zeit als ganzes Stück besitzen.
Ich kehrte zurück zur Besichtigung meiner Vorzüge, da mir diese in meiner augenblicklichen Stimmung wichtiger waren als die Minuspunkte, die ich - wie gehabt - leider schon zu ertragen hatte.
Und mein Augenmerk richtete sich auf die Nase, was ja nicht besonders verwunderlich ist, da sie auffälligerweise mitten im Gesicht sitzt. Mir fiel meine Schwester ein, als sie mich, in einem Fimmel für Menschenklassifikation nach Tiergruppen, eben aufgrund meiner Nase zu den Adlern reihte.
Nun, sei es wie es sein mag; ich jedenfalls konnte an meiner Nase keinen Makel entdecken und widmete mich dem Mund. Dieser, zu so nächtlicher Stunde bereits von dunklen Bartstoppeln umgeben, war von Natur aus vielleicht ein wenig melancholisch gezeichnet. Doch dies fiel mir keineswegs als Nachteil auf, da ich, gleich nach dem Augenzwinkern und den Wimpern, das Muskelspiel meiner Lippen oft als wertvolle Hilfe bei Eroberungen ansah. Und dabei konnte eine gewisse nachdenkliche Traurigkeit als Grundform nicht von Übel sein. Der Effekt von Bruchteile eines Millimeters geöffneten Lippen bei dieser Ausgangsposition ist nahezu unbeschreiblich, geradeso wie der eines spöttisch-herausfordernd zuckenden Mundwinkels.
Mein hübsch geprägtes, doch nicht hervorstehendes Kinn, T-gefurcht, rundete die ovale Gesichtsform ab, die über einem etwas sehnigen, mit männlichem Adamsapfel verzierten Hals, durchaus noch als ansprechbar bezeichnet werden darf.
Auch die mässig behaarte Brust, zusammen mit den relativ breiten Schultern und den profilierten Armen schmälerten das Bild nicht, das der Spiegel mir widergab. Letzteres allerdings, gestand ich mir ein, war nicht maßgebend, da sowohl Brust als auch Arme zur infragestehenden Zeit durch eines meiner besten, diskret gemusterten Hemden verdeckt gewesen waren.
Nun, geneigter Leser, ich komme schon zur Sache. Mir ist heute die Ehre zuteil geworden, in einer Schule als Aushilfslehrer einspringen zu dürfen. Es ist ja noch gar nicht so lange her, seit ich selbst zur Schule gegangen bin; gute zehn Jahre etwa, ein mikroskopisch kleiner Teil der Zeit unseres Kulturerbes, ein Nichts im Vergleich mit kosmischen Zahlen. Aber all dies ist relativ und daher unvergleichbar. Doch auch in den absoluten Zahlen unseres Menschseins erschien es mir als nicht besonders viel. Ich sollte ja keine ABC-Schützen unterrichten, nicht einmal lässige, unhöfliche Halbwüchsige unter die Fittiche nehmen, nein, ich sollte in der letzten Gymnasiumklasse einspringen. Ich war durchaus gewillt, meine Schützlinge als gleichberechtigt einzustufen, ihnen als Erwachsener wie Erwachsenen gegenüberzutreten.
Als ich das Klassenzimmer betrat sah ich mich durchaus in meiner Ansicht gestärkt. Vornehme Ansätze von Schnurrbärtchen zierten die Oberlippen einiger der anwesenden Herren und die Reize der Damen gingen keineswegs spurlos an mir vorüber.
Nach den einleitenden Worten der Präsentation stürzte ich mich gleich in medias res, oder, um der Sprache treu zu bleiben, into the heart of the matter. Nach einigen Auslegungen der auf dem Lehrplan stehenden "-ing-Form", beschloß ich, die Sache praktisch anzugehen und bat um ein Exempel. Doch meiner Erwartung entgegen, einfach einen nüchternen Beispielssatz zu hören bekommen, streckten sich etwa ein Dutzend Hände mit mehr oder weniger gespitzten Zeigefingern in die Höhe. Nun, ich beruhigte mich damit, daß in einer demokratisch-humanistischen Gesellschaft eben Ordnung herrschen müsse, und betrachtete das Aufzeigen eben als einen Ausdruck dieser. Ein junger Mann in der zweiten Reihe - das Mädchen neben ihm verwendete anscheinend keinen Büstenhalter - der junge Mann also wedelte besonders auffällig mit dem ganzen Unterarm, sodaß ich ihm mit einem höflichen "Bitte sehr!" das Wort erteilte.
Als Antwort erhielt ich zunächst einen verwirrten Blick und dann langsam erst die Erklärung. Er habe sich keineswegs gemeldet, sondern die bereits erwähnte Dame hätte ihn in den Arm gezwickt.
Ich tat den kleinen Zwischenfall als belanglos ab, denn ich sagte mir, daß ich von meiner Position beim Katheder aus ja auf keinen Fall beurteilen konnte, wo und wie diese Zwickerei begonnen hatte - und ich gestand mir ein, daß auch ich ein gewisses Kribbeln in den Fingern fühlte. Ich fuhr also im Unterricht fort, überging die leichte Unruhe, die entstand, als in der hintersten Reihe zwei vermutlich geistig retardierte Buben begannen, einander Grimassen zu schneiden, und war alsbald bei einer kontrastiven Erläuterung angelangt, als mich ein unmotiviertes Aufzeigen ein wenig aus der Bahn warf. Da die Aufzeigende jedoch eine dunkellockige Schönheit war und ich nicht sicher sein konnte, ob sie meiner Darstellung vielleicht nicht ganz folgen können hatte, unterbrach ich mich und deutete mit einem Lächeln an, daß sie sprechen möge. Ihre Frage paßte zwar nicht ganz zum Thema, entbar dagegen aber nicht einer gewissen Kindischheit.
"Darf ich bitte hinausgehen?" - So, und nicht anders, fragte sie.
Kopfschüttelnd breitete ich die Arme aus.
"Natürlich, gehen Sie bitte. - Aber was hätten Sie getan, wenn ich jetzt 'nein' gesagt hätte?"
Ich hatte die Lacher auf meiner Seite, aber ich merkte betrübt, daß es nur die Komik als solche war, die sie lachen ließ, und nicht die zarte Spitze gegen das kindliche Betragen.
Ich war nun an die Stelle gekommen, an der ich einige schriftliche Übungen eingeplant hatte und hatte daher einige Muße, die Schar meiner - von mir so hoch eingeschätzten - werdenden Maturanten zu betrachten. Ich hoffe, es sei mir verziehen, daß meine Augen ein wenig länger an den weiblichen Mitgliedern der Gesellschaft haften blieben. Grell geschminkte Lippen, schwere Wimperntusche, die mit ihrem Gewicht die Lider halb zudrückte, dazu Lidschatten in allen möglichen Farben und aufdringlich lackierte Fingernägel bildeten den Gesamteindruck, den ich erhielt.
Nur links vorne, gleich neben der Straßenkarte von London, konnte ich eine geschmakvoll geschminkte junge Dame ausmachen, deren apartes Gesichtchen auf mich anziehend wirkte. Sie lächelte versonnen, über ihr Buch gebeugt, kurz, ein Mädchen, das sich sehen lassen konnte.
Unbewußt, in der Betrachtung versunken, mußten sich meine Lippen eben um den Bruchteil jenes Millimeters geöffnet haben, der, zusammen mit der natürlichen Melancholie dieses Gesichtsteils fast unwiderstehlich wirkt. Sie sah auf, sah mich an. Ihr Lächeln erlosch. Schnell, ein wenig unsicher, wie es mir schien, blickte sie zurück ins Buch.
Hier wurde ich leider von schnalzenden Fingern abgelenkt; eine dieser bespachtelten Gänse in der Fensterreihe wollte mich sprechen. Ein wenig ungehalten ging ich zu ihr hin, sie deutete auf eine Stelle im Buch, auf eine lappalienhaft einfache Stelle, und sagte:
"Ich komme hier nicht weiter, Herr Professor."
Mir gab es einen Stich in der Herzgegend. Herr Professor! Als ob ich greisenhaft, mit schleppendem Gang und zittrigen Fingern zu ihrem Pult gekommen wäre, statt mit dem jugendlich federnden Schritt eines Panthers.
Gut, ich erklärte ihr die Stelle mit kurzen Worten und machte, daß ich an meinen Platz zurückkam, von wo ich die Umgebung Londons viel deutlicher studieren konnte.
Arme Kleine! Sie saß noch immer ein wenig verunsichert da, wie mir schien, die Schultern merkbar hochgezogen, wie um sich selbst vor den Gefahren des Lebens zu schützen. Ich hatte Verständnis für ihr Verhalten, schließlich konnte sie ja an solch edle Züge, wie die meinen es waren, nicht gewöhnt sein. Wer weiß was ihre anderen Lehrkräfte an alten Hexen und vertrockneten Paukern darstellten. Ich überdachte kurz meine Rolle als Lehrer, mein Verhältnis zu den Schülern, und ich kam zu dem Schluß, daß ich letztendlich ja nur Aushilfslehrer war, und es daher mit den ethischen Regeln auch nicht so genau zu nehmen brauchte.
Ich beschloß also, ihre Nervosität ein wenig zu zügeln, ihr eines meiner Gustostückerln, das kaum wahrnehmbare Zwinkern des linken Auges zu schenken, sodaß sie sich meiner Gunst sicher sein konnte und sich nach der Schule vielleicht ein wenig langsamer als die anderen auf den Heimweg machte.
Die restlichen Minuten verflogen im Nu, ohne daß ich die Gelegenheit hatte, diese meine beste Waffe, mein schwerstes Geschütz an den Mann - Verzeihung, an die Frau - zu bringen. Kurz vor dem Pausenzeichen ergab sich aber dennoch eine Möglichkeit. Ich glaubte auch ein kurzes Aufflackern ihres Blickes zu erkennen, bevor sie sich wieder ihrem Heft zuwandte. Dann klingelte es endlich.
Als ich im Pausengedränge die Treppe zum Lehrerzimmer hinabstieg, sah ich ihren Schatten an mir vorbeigleiten und hörte eine Stimme. Ich kann nicht beschwören, daß es die ihre war, und auch nicht, daß sie mir gegolten hatte.
Aber bitte, geneigter Leser, verstehen Sie, daß ich heute mein Abbild im Spiegel eingehender betrachtete als sonst. Die Stimme, eine wunderbare, wohltönende, reine Stimme, hatte nämlich gesagt:
"Was willst du eigentlich von mir, Onkel?"

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås, Schweden


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