DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Die Frauen auf Lemnos


Auf der Insel Lemnos gingen wir an Land, um Frischwasser aufzufüllen. Wir landeten gar nicht so weit von dem Platz, wo Hephaistos aufschlug, als ihn Hera als Neugeborenen aus dem Olymp warf, nur weil er so hässlich war. Was für nette Mutter dieses Weib ist, nicht wahr? Ich frage mich, ob sie überhaupt einen einzigen sympathischen Zug hat?

Aber zurück nach Lemnos. Wir hatten beschlossen, dort zu übernachten, deshalb hatten wir die Argo auf den Strand hinaufgezogen und uns in Gruppen aufgeteilt, um Holz, Wasser und Jagdbeute zu finden. Wir waren jeweils zu fünft, zwei Gruppen sollten Wasser suchen, zwei weitere Holz holen und eine Gruppe blieb als Schutz beim Schiff. Der Rest ging auf die Jagd. Mir war die Verantwortung für eine Gruppe mit Atalante, Idas, Lynkeus und natürlich Hylas übertragen worden. Wir gingen nach Süden, dem Wald am Fuß des Berges Mosychlos zu, und schossen dort schnell zwei Hasen und einen kleinen Rehbock. Damit hatten wir unsere Quote reichlich erfüllt. Als wir zum Lager zurückkamen erwartete uns eine Überraschung. Wir hatten Besuch bekommen.

Drei junge Damen in festlicher Kleidung hatten sich beim Feuer niedergelassen und waren mit denen, die schon zurückgekommen waren, in ein Gespräch vertieft. Als wir die Gruppe erreichten, hörten wir, dass wir am Abend zu einer Feier eingeladen worden waren. Das war wirklich eine nette Abwechslung und als alle zurückgekommen waren, nahmen wir die Einladung gern an. Jason beschloss aber, dass wir zehn Mann beim Schiff lassen mussten - sicherheitshalber. Man konnte ja nie wissen, ob nicht eine List hinter dieser freundlichen Einladung steckte. Die Argo war viel zu wertvoll, als dass wir das Schiff aufs Spiel setzen konnten. Es war - logischerweise - schwer, Freiwillige zu finden, die als Wachmannschaft dableiben wollte, deshalb musste das Los entscheiden. Ich hatte Glück, aber sowohl Theseus, wie auch Hylas gehörten zu denen, die die Bewachung übernehmen mussten. Wir überließen ihnen einen reichlichen Anteil der Jagdbeute, sodass sie sich wenigstens ordentlich sattessen konnten. Den Rest nahmen wir als Gastgeschenk mit, als wir dann aufbrachen und unseren drei Führerinnen folgten. Es war nicht weiter als ein paar Kilometer bis zum Dorf, in dem unsere Gastgeber ihren Wohnsitz hatten. Aber als wir hinkamen, begannen wir sogleich, Unrat zu ahnen. Wohin wir auch schauten, waren nur Frauen zu sehen. Im ganzen Dorf sahen wir keinen einzigen Mann. Viele von uns fragten sich sicher, ob die Männer nicht irgendwo am Strand im Hinterhalt lagen, um zuerst unsere Wachposten zu übermannen und später dann auch uns, wenn wir ein paar Becher Wein gekippt hatten.

Deshalb war es beruhigend, dass die Anführerin dieser Gesellschaft selbst auf das Thema zu sprechen kam, nachdem sie uns willkommen geheißen hatte.

"Natürlich müsst ihr euch die Frage stellen, wieso es in unserem Dorf nur Frauen gibt", sagte sie. "Aber dafür gibt es eine natürliche, wenngleich ziemlich traurige Erklärung. Unsere Männer - denn wir hatten solche, wenn sie nun diesen Namen verdienten - behandelten uns schlechter als Sklaven, so lange wir zurückdenken können. Sie waren rücksichtslos und brutal, nicht einmal unser Leben bedeutete ihnen etwas. Es kam ziemlich oft vor, dass einer der Kerle seine Frau totprügelte, wenn er zuviel getrunken hatte, oder auch nur schlecht aufgelegt war. Sie konnten uns leicht ersetzen, denn die Männer unternahmen regelmässig Bootfahrten nach Imroz oder Samothrake, oder auch in die Gegend von Troja, am Festland. Auf diesen Reisen gelang es ihnen immer, ein paar junge Mädchen zu überreden, mit ihnen zu kommen; oder sie entführten sie ganz einfach. Kaum die Hälfte von uns ist hier geboren, alle anderen wurden hergelockt oder mit Gewalt hierhergebracht."

Sie hielt ein, strich mit der einen Hand ihre langen, schwarzen Haare zurück, die ihr ins Gesicht zu fallen drohten und zeigte mit der anderen auf einen dicken Baumstamm, der ungefähr mitten im Dorf stand. Der sah sehr merkwürdig aus. Der Stamm erhob sich drei, vier Meter aus der Erde, aber oben gab es keine Krone, nur ein paar dünne Zweige waren dort herausgewachsen. Man musste sämtliche Äste des Baumes abgeschlagen haben, sodass er erst neulich wieder hatte austreiben können.

"Seht ihr den Schandpfahl dort? Wir haben ihn zur Erinnerung stehen lassen, sodass wir uns immer daran erinnern werden, was wir durchgemacht haben." Die Stimme der dunkelhaarigen Frau war laut und deutlich, aber sie bebte vor Bitterkeit. "Jeder Mann, wer auch immer, hatte das Recht, jede von uns anzuklagen, wofür es auch sein mochte. Es konnte eine Antwort sein, die ihm nicht passte, was er dann als Frechheit ihm gegenüber bezeichnete, oder auch nur ein Blick, den er als ungebührlich empfand und den er dann als offenen Trotz anklagte, oder ähnliche Widersinnlichkeiten. Die Strafe war, einen Tag lang am Pranger stehen zu müssen. Wir wurden nackt hingestellt und and den Armen so hoch am Baum hinaufgezogen, dass wir nur mit den Zehenspitzen den Erdboden berührten. Dort waren wir dann vollkommen rechtslos und allen ausgeliefert. Ein Vorbeigehender konnte uns anspucken oder mit Steinen bewerfen, oder eben tun, was er wollte. Dort standen wir ohne Essen oder auch nur Wasser, bis zum Einbruch der Dunkelheit. Die meisten wurden irgendwann gegen Mittag ohnmächtig, wenn die Sonne ganz stark herunterbrannte."

Ich verspürte ein Gefühl des Ekels. Was war das nur für Gesellschaft, in die wir hier geraten waren? Was waren das für.... mir fehlten die Worte sogar in Gedanken.... elende Bestien, die die Mütter ihrer Kinder so schlecht behandeln konnten? Gleichzeitig aber bedachte ich - und schämte mich ein wenig - dass das hier ja nur im Großen den Einzelfall spiegelte. Wie viele Männer gab es nicht auf der ganzen Welt, die ihre Frauen schlugen und unterdrückten? Wie viele von ihnen gab es nicht bei uns daheim? Und wir anderen wollten die blauen Flecken der Frauen nicht bemerken, von denen sie - aus Angst - sagten, dass sie sie bekommen hatten, als sie eine Treppe hinuntergefallen oder in den Türstock hineingelaufen waren. Obwohl wir meistens sehr wohl wussten, worum es wirklich ging.... Aber hier schien ja etwas geschehen zu sein, weil hier gab es ja keine Männer mehr.

"Ich erzähle das nicht, weil wir euer Mitleid haben wollen", sprach die Rednerin weiter. "Aber ich muss euch diesen Hintergrund geben, damit ihr begreifen könnt, was dann geschah. Jede Unterdrückung überschreitet bei den Opfern irgendwann einmal einen kritischen Punkt, wenn sie andauert. Es gibt nämlich eine Grenze für das, was man aushalten kann, auch wenn es nicht immer möglich ist, gerade dann zu reagieren. Aber wenn man einmal darüber hinweg ist, dann ist man bereit, wenn sich die Gelegenheit ergibt."

Wieder strich sie die schwarzen Locken zurück und atmete eine Weile ruhig durch, bevor sie weitersprach.

"Bei ihren Vergnügungsreisen ließen unsere Männer gewöhnlich ein paar der Alten zurück, die auf uns aufpassen sollten. Jetzt, im Nachhinein sehen wir ja ein, dass es leicht gewesen wäre, die Situation beim Schopf zu fassen und damals schon Aufruhr zu machen. Ich weiß nicht, warum wir das nie taten. Vielleicht weil das Leben uns gelehrt hatte, dass schon die bloße Anwesenheit eines dieser Kerle Unterwürfigkeit, Plagen und Schonungslosigkeit bedeutete, oder vielleicht weil wir wussten, dass uns unsere Männer dann ganz einfach getötet hätten, wenn sie von ihrer Fahrt heimgekommen waren. Wie gesagt, ich weiß nicht warum. Der Verstand wird getrübt, wenn man ständig Gewalt und Unterdrückung ausgesetzt ist. Es musste ein Anlass von außen kommen, der uns zum reagieren brachte."

Wieder hielt sie ein. Ich dachte erst, dass dies ein Rednerkniff sei, um die Spannung zu erhöhen, aber jetzt weiß ich, dass sie sich vor der weiteren Erzählung sammeln musste, um sich selbst überwinden zu können, wieder an das zu denken, was geschehen war.

”Unsere Männer waren auf einem ihrer Ausflüge zum Festland”, ergriff sie schließlich wieder das Wort, ”aber anscheinend waren sie bei der Heimfahrt von sehr schlechtem Wetter überrascht worden. Es gab starken Sturm an diesem Tag, der hier auf der Insel sogar ein paar Bäume umwarf und am Meer gingen die Wellen höher als sich jemand erinnern kann. Die Männer waren mit sechs Booten weggefahren, aber als wir sie sehen konnten, kamen nur zwei zurück. Und wir sahen, wie diese zwei kenterten. Das war der Anlass von außen, der uns unsere Lähmung abschütteln ließ. Wir hatten uns vorher nie zusammengeredet. Wir hatten zu viel Angst gehabt, um gemeinsame Pläne zu schmieden. Aber, als ob das Schicksal der Boote ein Signal gewesen wäre, holten wir uns Messer und Bratpfannen und schlugen oder stachen die Alten, die man bei uns gelassen hatte, zu Tode. Wir erschlugen auch die drei, die es geschafft hatten, an Land zu schwimmen, als sie völlig ermattet auf den Strand gekrochen waren - und am Tag danach die Mannschaft eines dritten Bootes, das weit nach Süden getrieben worden und dort gestrandet war, sodass sie erst später heimkamen.

Sie schlug mit den Händen aus und hielt die Handflächen gegen uns gewendet.

”Wir sind alle schuldig - wenn wir es sind - ganz unabgesehen davon, wer die tötenden Waffen in der Hand hielt. Jetzt wisst ihr, warum es bei uns keine Männer mehr gibt. Wir haben keine andere Entschuldigung, als die, die ich euch gerade gegeben habe.”

Wir saßen schweigend da, jeder mit seinem eigenen Gewissen beschäftigt. Mir gefiel dieses Ende nicht, wenn ich auch die Frauen sehr gut verstehen konnte. Aber durfte ich sie wirklich verurteilen, konnte es überhaupt jemand tun? Konnte denn wirklich jemand verlangen, dass sie sich weiterhin in ihre missliche Lage finden sollten, sich vielleicht sogar damit abfinden, dass sie selbst ums Leben kamen, um bleiben zu lassen, was sie getan hatten? Ist es nicht immer die Schuld des Stärkeren, wenn er seine Macht missbraucht, auch wenn das schließlich in einer grausamen Reaktion gipfelt?

Ich saß ganz in meine Gedanken vertieft, als die Anführerin der Frauen wieder zu sprechen begann:

”Wie ich schon vorhin sagte, sind viele von uns an anderen Orten geboren und aufgewachsen und von dort haben wir auch die Erfahrung, dass unser Zustand hier nicht mit einem Leben in einer normalen Gesellschaft vergleichbar ist. Wir leben jetzt seit drei Jahren allein und diese Zeit brauchten wir wirklich, um über unsere Ängste hinwegzukommen und über unsere Abscheu für die Männer, die uns einem so schlimmen Leben ausgesetzt hatten. Viele von uns sind psychisch so mitgenommen, dass sie niemals mehr mit einem Mann zusammenleben wollen. Aber...”

Hier erhob sie die Stimme beim letzten Wort und behielt den Rest des Satzes für sich, während sie hilflos mit den Schultern zuckte.

”Aber wir sind Frauen. Und wir haben auch eine biologische Aufgabe im Leben. Wir sollen Kinder gebären. Wir wollen ja eine neue Generation zeugen, die wir so erziehen wollen, dass sie Respekt voreinander haben, sodass sie begreifen, dass die beiden Geschlechter einander komplettieren, statt dass das eine das andere ausnützt.”

Ihre Worte blieben in der Luft hängen und ich versuchte, meine Gedanken dieser neuen Wendung anzupassen, aber sie sprach schon wieder:

”Deshalb wollen wir euch bitten, eine Weile bei uns zu bleiben, um - wenn ihr es wollt - mit uns Kinder zu zeugen. Ihr dürft dabei aber keinen Zwang verspüren und vor allem es auch nicht aus Mitleid mit uns tun. Die Voraussetzung muss sein, dass alles ganz natürlich geschieht.” Hier schenkte sie uns ein kleines Lächeln. ”Aber in dem Fall werden wir uns anstrengen, alles zu tun, damit es euch ganz natürlich erscheint....”

Das Lächeln auf ihren Lippen verschwand wieder, sie hob die Hand, um die Aufmerksamkeit wieder herzustellen, und schloss ihre Rede mit diesen Worten ab:

”Jetzt kennt ihr die ganze Wahrheit. Wir wissen, dass dies keine alltägliche Situation ist, vor die wir euch gestellt haben. Wir verstehen es auch, wenn ihr aus dem einen oder anderen Grund davor zögert, bei uns zu bleiben. Aber nochmals, ihr müsst euch völlig frei fühlen, zu tun, was immer ihr wollt. Wir hoffen zunächst, dass wir einen ersten gemeinsamen Abend verbringen können, um all diese schlechten Gedanken zu zerstreuen, die meine Erzählung hervorgerufen hat. Aber wenn ihr jetzt gleich gehen wollt, verstehen wir das auch.”

Sie sah im Kreis herum, schien uns allen in die Augen zu sehen. Keiner von uns stand auf, um wegzugehen.


© Bernhard Kauntz, Västerås 2001


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