DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Meleagros und die kalydonische Eberjagd


Ein paar Tage später, als ich wieder einmal mit Atalante zusammen bei der Argo saß, fragte ich sie nach der kalydonischen Eberjagd. Ihr Blick verfinsterte sich zusehends und ich dachte schon, dass sie mir eine Abfuhr erteilen würde, als sie doch noch zu erzählen begann.

"Weißt du, die Jagd war recht spannend, aber ich kann halt nicht den armen Meleagros vergessen. Außerdem fühle ich mich an seinem Schicksal mitschuldig. Ich kann zwar wirklich nichts dafür, aber ich bin ja die auslösende Ursache gewesen. Deshalb spreche ich nicht gern darüber. Kanntest du Meleagros?"


  Kopf Meleagers - ca 340 v. Chr. - Marmor
  Römische Kopie nach gr. Original
  Kunsthistorisches Museum, Wien
Ich schüttelte den Kopf. "Nein, nur dem Namen nach. Er war der Sohn von König Oineus und Althaia, oder?"

"Ja, das ist richtig", antwortete die schöne Frau mir gegenüber. "Er war ein liebenswerter Mann, der Meleagros, das muss sogar ich zugeben. Ganz so, wie die Moiren es geweissagt haben, als sie an seine Wiege traten."

"Oh je", warf ich ein. "Die Schicksalsgöttinnen kamen sogar an seine Wiege? Es ist doch besser, wenn man diese Damen gar nicht trifft. Wer will schon wissen, was einem geschehen wird?"

"Ja, da hast du recht", stimmte Atalante mir zu. "Allerdings gaben sie ohnehin nur einen Rahmen an, es war eigentlich eine großzügige Prophezeiung. Klotho sagte ihm Heldenhaftigkeit voraus und Lachesis Großmütigkeit. Und sogar Atropos, die den Lebensfaden abschneidet, gab seiner Mutter symbolisch sein Leben in die Hand. Das ist ja das Schlimme an der Sache."

"Wieso", fragte ich. "Wieso konnte sie sein Leben in die Hand seiner Mutter legen?"

"Nun, sie zeigte auf ein gerade angekohltes Scheit im Herd und versprach Althaia, dass Meleagros leben würde, solange dieses Scheit nicht verbrannt war. Die Mutter riss natürlich sofort mit bloßen Händen das Holzstück aus dem Feuer und warf es ins Wasser. Das hätte wohl jede Mutter getan. Dann versteckte sie es an einem sicheren Platz. Und Meleagros wuchs zu einem großmütigen und tapferen jungen Mann heran. Er war allerdings auch ein Heißsporn, dessen Taten manchmal schneller waren, als seine Gedanken."

Mit der ihr typischen Bewegung des Kopfes schleuderte sie ihren langen Haare in den Nacken zurück, bevor sie weitersprach.

"Im dem Jahr, als Meleagros zweiundzwanzig Jahre alt wurde, machte sein Vater einen groben Fehler. Als er, nach der reichen Ernte des Jahres, den Göttern opferte, vergaß er auf Artemis. Die Göttin der Jagd war deshalb natürlich bitterböse und sandte ein riesiges Wildschwein ins Land, das im Jahr darauf ein großen Teil der Ernte verwüstete. Viele Männer zogen aus, um das Tier zu erlegen, es gelang aber keinem. Viele bezahlten dagegen mit ihrem Leben."

Atalante sah mich traurig an und sagte:

"Das war das Vorspiel zu der tragischen Eberjagd in Kalydon. Im Jahr darauf suchte nämlich Meleagros viele Leute zusammen, damit wir gemeinsam auf das Tier losgehen konnten. Ich war damals gerade zu Besuch, weil ich auf der Durchreise war und ich bat, mitmachen zu dürfen. Hätte ich das nur nie getan!
Es schien, als ob die Bestie wusste, dass es ihr jetzt ernstlich an den Kragen gehen sollte, denn sie versteckte sich so gut, dass wir eine ganze Woche brauchten, um sie aufzuspüren. Dann aber hatte sich das Tier in einem kleinen Wald verkrochen, in dem das Reisig und das wuchernde Gras mindestens kniehoch alles verdeckte. Wir hatten das Wäldchen umstellt, aber es schien uns gefährlich, dort einzudringen. Wir schickten drei Hunde hinein, doch bald ließ uns das jämmerliche Aufjaulen zweier auch diese Hoffnung aufgeben. Der dritte kam nach einer Weile mit einer argen Wunde in der Seite zurückgekrochen. Dann brach der Eber plötzlich aus, als viele von uns sich um den Hund kümmerten. Wohl hagelte es Pfeile und Speere, aber sie verfehlten alle ihr Ziel. Auch ich war überrascht worden und musste erst meinen Bogen von der Schulter nehmen, weil ich gerade Heilpflanzen suchte, um den Hund verarzten zu können. Gleichzeitg aber war ich ein Stück weiter weg von den anderen, sodass mir das Tier länger im Schussfeld blieb. Endlich konnte ich abziehen und ich sah mit Genugtuung, wie der Pfeil unterhalb des Ohres steckenblieb. Es war kein guter Schuss, er hätte den Eber nie getötet, wäre er einfach weitergerannt.
Aber er wendete wutschnaubend und schoss mir gerade entgegen. Man kann es gar nicht glauben, was für Tempo das Tier entwickelte. Ich ließ den Bogen fallen und rannte davon, so schnell ich nur konnte."

Atalante hielt inne, vom Wiedererleben der Szene erschüttert. Sie sah mich kopfschüttelnd an, als sie wieder zu erzählen begann.

"Du weißt ja, dass ich schnell laufen kann, aber ich hatte keine Chance. Meter um Meter holte das Tier auf. Als es schon knapp hinter mir war, kam ich endlich zu einem Baum mit einem tiefhängenden Ast.

  Rubens: Die Jagd des Meleager und der Atalante
Ich sprang mit aller Kraft hoch und spürte noch den Luftzug, als die riesigen Hauer mein Bein ganz knapp verfehlten. Wild grunzend machte das Tier kehrt, aber jetzt waren auch die anderen wieder in Schussweite gekommen und Meleagros Speer riss eine tiefe Furche in das Hinterbein des Ebers. Auf diese Art seiner Schnelligkeit beraubt, sodass er nicht mehr fliehen konnte, suchte er nach einem neuen Angriffsziel. Aber er kam nicht mehr weit, denn bald war sein Körper mit Geschossen übersät und er brach zusammen."

Ich starrte gebannt auf die Lippen der blonden Frau, die sich jetzt aber zu einer dünnen Linie zusammenzogen, als sie weitersprach.

"Zuerst war alles voller Freude, alle jubelten darüber, dass die Bestie erlegt worden war, während Meleagros ihr die Haut abzog und den Kopf abschnitt. Dann aber, als er mir die Trophäen schenkte und meinte, dass ohne mein Eingreifen die Bestie ja entkommen wäre, begannen einige Männer zu murren. Allen voran stänkerten die beiden Onkel des Meleagros, Brüder seiner Mutter. Es sei nicht richtig, dass ich die Trophäen erhalten solle, weil mein Schuss ja keinesfalls tödlich war und außerdem war ich überhaupt nur ein Mädchen, was solle ich denn mit Jagdtrophäen? Meleagros verteidigte seine Ansichten und damit auch mich, aber die Stimmung wurde immer drohender. Ich versuchte zu sagen, dass ich ohnehin gern auf die Beute verzichten würde, aber keiner hörte mehr auf mich. Der Streit wurde immer heftiger und als einer der Männer mich am Arm packte, griff Meleagros zu seinem Schwert. Seine Onkel verteidigten sich natürlich und verwundeten ihn auch am Oberschenkel. Meleagros aber kämpfte weiter und erschlug die beiden Brüder seiner Mutter."

Atalante schwieg. Dann rief sie plötzlich aus:

"Ihr Männer! Wie kann man wegen so einer Lappalie nur einen Streit vom Zaun brechen, der dann gar bis zum Totschlag führt? Jetzt wollte ich schon gar keine Erinnerung an den blöden Eber, weil jetzt klebte sogar Menschenblut an den Trophäen. Ich ließ sie einfach liegen, ich weiß nicht, was dann mit ihnen passiert ist.
Ein paar von uns blieben zurück, um Meleagros zu verbinden und um eine Bahre für ihn anzufertigen. Vier der Männer trugen ihn dann zur Stadt zurück, aber noch bevor wir ankamen, war Meleagros gestorben, anscheinend an der schlimmen Verletzung am Schenkel verblutet.
Als wir dann endlich die Stadt erreichten, hörten wir, dass Meleagros Mutter, Althaia, vor dem Opferaltar im Tempel tot aufgefunden worden war. Sie hatte sich selbst gerichtet. Auf der Feuerstelle jedoch fand man noch warme Asche und von dem Holzscheit, das Meleagros das Leben sicherte, fehlte jede Spur."

Atalante strich eine Träne von der Wange, als sie verstummte und ich sah ein, dass ihr diese Jagd in keiner guten Erinnerung sein konnte. Ich fragte mich aber auch, ob ich selbst dazu fähig sein könnte, über eines meiner Kinder das Todesurteil zu fällen, so wie Althaia es getan hatte, als sie das Holzscheit verbrannte....


Meleagers Mutter wirft das Holzscheit in die Flammen
Gobelin im königlichen Schloss in Stockholm


© Bernhard Kauntz, Västerås 2002


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