DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Antigone


Auch wenn wir nur ein paar Stunden auf dem Floß verbracht hatten, tat es gut, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Wir wanderten eine Weile am Strand auf und ab, um unsere Glieder wieder geschmeidig zu machen. Dann aber drängte ich darauf, wieder weiterzufahren. An Bord fragte ich Polyphemos, ob ich nicht eine Weile steuern solle, aber er erwiderte lächelnd, dass es viel besser wäre, wenn ich meine Erzählung fortsetzte. Also begann ich wieder:

"Nun, wir waren so weit gekommen, dass Amphiaraos den Kopf des Melanippos abschlug, nicht wahr? Nachdem man in Theben der Meinung war, dass Melanippos, wenn auch knapp, so doch noch am Leben war, sei dies ein Verstoß gegen die Abmachung des Zweikampfes, den Malanippos von Tydeus gefordert hatte.
Die Empörung darüber war so groß, dass die Thebaner jetzt selbst zum Angriff übergingen. Sie schlugen alle Tore auf und überraschten die Belagerer, die zum größten Teil ihr Heil in der Flucht suchten. Hippomedon jedoch fand den Tod durch einen Speer des Amphidikos. Amphiaraos sprang auf seinen Vierspann, seinen bilderlosen Schild nach hinten haltend, und raste auf das Ufer des Ismenos zu."

"Ja, das war da, als Periklymenos ihn verfolgte", warf Polyphemos ein. "Er hätte ihn sicher bei der Übersetzung des Flusses erwischt, wenn nicht dein Vater eingegriffen hätte."

"Schon möglich", gab ich zu. "Aber Zeus hatte wahrscheinlich Amphiaraos zugute gerechnet, dass er eigentlich gegen diesen Feldzug gewesen war. Deshalb spaltete er die Erde, sodass die Pferde mitsamt Wagen und Lenker in dem Schlund verschwanden. Das war wohl immer noch ein besseres Schicksal, als getötet zu werden. Und genau wie Amphiaraos es vorhergesagt hatte, war Adrastos der einzige Anführer, der entkam. Das verdankte er auch nur der Schnelligkeit seines Pferdes, Areion.
Denn der letzte der Sieben, Polyneikes, floh nicht. Er blieb trotzig allein mitten auf dem freien Feld stehen und schrie die Thebaner an, als sie sich näherten:

'Hinweg! Denn ich bin gekommen, um mein Erbe anzutreten. Schickt mir Eteokles, holt meinen verräterischen Bruder! Seine Schuld ist es, dass dieser Krieg ausgebrochen ist. Und nun bin ich hier, um Rache zu nehmen.'

Tatsächlich wichen die Thebaner zurück und bildeten einen Kreis, in dessen Mitte Polyneikes hochaufgerichtet stand, das blitzende Schwert in der Hand, die Ankunft des Bruders erwartend. Und Eteokles kam schließlich. Langsam kam er näher, fast zaudernd, doch ohne ein Wort zu sagen. Und dann plötzlich, als er sich schon auf zwei Schritte Abstand befand, stieß er vor, ohne irgendwelche Warnung. Er überraschte Polyneikes vollkommen und bohrte sein Schwert tief in die Brust des Bruders. Dieser riss nur reflexmäßig seinen Schwertarm in die Höhe und traf Eteokles am Hals, sodass er ihm die Kehle durchtrennte. Nebeneinander sanken die beiden in den Staub.
Als Kreon vom Tod der beiden hörte, rief er sich wieder zum König aus und verfügte, dass man den Leichnam des Eteokles in die Stadt bringen und feierlich begraben solle. Die Überreste des Polyneikes sollten jedoch draußen liegenbleiben, den wilden Hunden und Vögeln zum Fraß. Er verbot bei Todesstrafe, auch nur in die Nähe der Leiche zu kommen."

Ich hielt an, weil meine Gedanken abschweiften. Ich fragte mich, wie es wohl möglich war, dass ein Mann so ungerecht sein konnte. Beide waren ja seine Neffen gewesen, und er, Kreon, hatte ja schließlich den Betrug an Polyneikes angestiftet. Polyphemos musste ähnliche Gedanken gehabt haben, denn er sagte:

"Komisch, dass Kreons Hass so tief war. Er muss wohl größenwahnsinnig gewesen sein - und voller Machtgier."

"Da kannst du recht haben", stimmte ich zu, "denn es kam noch viel schlimmer. Als Antigone hörte, was Kreon beschlossen hatte, gab es für sie keine andere Wahl, als ihren Bruder zu bestatten. Sie besprach sich mit Ismene, ihrer Schwester, und bat sie, ihr zu helfen, den Leichnam in die Stadt zu bringen. Doch Ismene hatte zu große Angst vor Kreon. Deswegen blieb Antigone nichts anderes übrig, als hinauszugehen und Polyneikes dort, wo er lag, notdürftig mit Erde zu bestreuen und ihn rituell zu begießen.
Natürlich schnappte man sie und schleppte sie vor ihren Onkel. Stolz wies sie alle Anklagen zurück, meinte, es sei ein Göttergebot, die Gefallenen zu begraben, über das sich Kreon nicht hinwegsetzen könne. Und es war auch bei diesem Gespräch, als sie die berühmten Worte aussprach:

'Um zu lieben bin ich geboren, nicht um zu hassen.'

Wir alle sollten uns daran ein Beispiel nehmen und diese Worte durchs Leben tragen."

"Sogar wenn wir dafür mit dem Tod bestraft werden?" Polyphemos runzelte die Stirn. "Ich weiß wohl, dass Antigone behauptete, dass ihr das Leben so übel mitgespielt habe, dass der Tod für sie eine Befreiung bedeutete. Aber die meisten Menschen leben ja doch recht gern. Soll man auch dann Märtyrer spielen?"

"Tja." Ich zuckte die Schultern. "Das ist wohl eine Frage, die sich jeder selbst beantworten muss. Aber wenn du dieses Motto konsequent durchdenkst, dann gäbe es keinen, der jemand dafür töten würde."

"Aber Kreon ließ Antigone nicht töten, glaube ich", fragte Polyphemos.

"Nein. Aber er tat etwas noch Ärgeres." Ich lachte trocken auf. "Wenn man einen Menschen in einer Höhle einmauert und eine kleine Öffnung ausspart, um Essen hineinschieben zu können, um die Qualen zu verlängern, dann ist es wohl ärger als eine Hinrichtung."

"Warum hat er das getan?"

"Weil er sie nicht ganz einfach hinrichten lassen konnte. Weil er dem Druck des Volkes nachgeben musste. Denn ganz allgemein sah man in Antigones Handlung keine Untat. Im Gegenteil. Und Antigone war auch für ihr Wesen und für ihr Auftreten beim Volk beliebt."

"War es nicht Haimon, der Sohn Kreons, der sie erhängt in der Höhle fand?" Polyphemos steuerte nach links, auf eine Bucht zu.

"Ja. Richtig. Haimon war in Antigone verliebt und machte sich Hoffnungen, sie einmal zur Frau zu gewinnen. Als er herausfand, wo sie eingesperrt war, lief er sofort hin, um sie freizulassen, trotz der Verfügung seines Vaters. Aber als er das Mauerwerk vom Eingang weggerissen hatte, sah er, dass er zu spät gekommen war. In seiner Verzweiflung nahm er sich selbst das Leben und wurde zu Füßen seiner Geliebten gefunden."

Ich musste mich räuspern, weil es mir plötzlich die Kehle zusammendrückte. Polyphemos sah mir an, dass ich ergriffen war, deshalb gab er mir ein paar Sekunden, bevor er fragte:

"Du, entschuldige dass ich unterbreche, aber meinst du nicht, dass der Strand in der kleinen Bucht geeignet wäre, um zu übernachten?"

"Ja, freilich", nickte ich. "Und da hast du nichts unterbrochen, denn jetzt ist die Geschichte zu Ende erzählt. Hinzuzufügen ist vielleicht nur noch, dass ich Antigone für eine der mutigsten und liebenswürdigsten Frauen halte, die je gelebt haben."


© Bernhard Kauntz, Västerås 2004


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