DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Antiope


Also, sehr begeistert bin ich nicht von Thrakien. Diese Landschaft ist recht eintönig, spärlich besiedelt und ziemlich kühl. Die letzten drei Tage waren ganz und gar ereignislos. Vorgestern bin ich auf ein kleines Dorf gestoßen, sonst habe ich keine Spur von Zivilisation gesehen, bevor ich heute am Nachmittag hier in der Stadt gelandet bin. Interessant ist, dass die älteren Leute sie Ismaros nennen, während die Jugend den Namen Maroneia bevorzugen zu scheint. Warum das so ist, bin ich noch nicht draufgekommen. Jedenfalls war ich heilfroh, als ich schon kurz nach Mittag gesehen habe, dass man an den Südhängen der Hügel Weinbau betreibt, weil das konnte ja nur bedeuten, dass sich eine Siedlung in der Nähe befand. Ganz richtig sah ich dann nach einer Weile den kegelförmigen Hügel, auf dessen oberstem Teil die Stadt lag. Man hatte sie sogar mit recht stabilen Mauern umgeben. Ich war ein wenig überrascht, denn ich fand, dass eine Stadt von dieser Größe wohl keine Angst vor den Banditengruppen der Barbaren zu haben brauchte. Diese gehen doch meist nur in kleinen Gruppen auf ihre Raubzüge in die Dörfer und würden sich hüten, eine Übermacht anzugreifen.

Von meinem Wirt lernte ich aber bald, dass es nicht nur die Barbaren waren, vor denen man sich auf diese Weise schützte. Es war ein viel größeres Übel, vor dem man Angst hatte. Denn die Stadt lag im Grenzgebiet des Landes, das der Aressohn Diomedes als sein Königreich betrachtete. Er hatte mit Hilfe seiner vier menschenfressenden Pferde den Barbarenstamm der Bistonen unterworfen und sich selbst zum König ausersehen. Sein Königreich streckte sich bis an die Ufer des Flusses Nestos im Westen und weit ins Landesinnere. Wie weit, das wusste man nicht, denn bislang war keiner zurückgekommen, der das erforschen wollte. Das war auch der Grund, warum sich die Weingärten der Stadt nur im Süden und Osten befanden - und auch dorthin wagte man sich nur in großen Gruppen, um bei einem eventuellen Überfall einigermaßen verteidigungsfähig zu sein.

Als der Wirt hörte, dass ich vorhatte, nach Westen weiter zu wandern, schüttelte er den Kopf.

"Das ist viel zu gefährlich", behauptete er.

Ich erklärte ihm, dass ich keine Wahl hatte, weil ich ja nach Hause kommen musste, aber er wiederholte, dass nur ein Lebensüberdrüssiger diesen Weg allein gehen würde. Er machte mir jedoch einen anderen Vorschlag. Wenn ich noch einen Tag wartete, könne ich mit einem Boot bis Aisyme mitfahren. Da musste er nämlich ohnehin den Sohn seiner Schwester zurückschicken. Es wäre also gar kein extra Aufwand, weil das Boot und vier Ruderer schon bereit standen.

Nun, das kostete mich zwar einen Tag, aber unter den gegebenen Umständen war ich über das Angebot froh und sagte dankend zu. Vermutlich würden wir auf dem Wasser auch schneller sein und die verlorene Zeit wieder einbringen.

Am Abend saß ich in der Gaststube und hatte gerade mein Nachtmahl verzehrt, als sich der Wirt zu mir setzte. Im darauffolgenden Gespräch erfuhr ich, dass er Evander hieß und aus Arkadien stammte. Er hatte sich hier eine Herberge aufgebaut, aber er war mit dem Leben in Thrakien gar nicht zufrieden. Es sei ihm zu kalt, sagte er, und die ständige Bedrohung durch die Bistonen sei dem Geschäft nicht sehr zuträglich. Deshalb spielte er mit dem Gedanken, wieder weg zu ziehen. Andererseits locke ihn die Fremde, gab er zu. Deshalb würde er nächstes Mal nach Westen statt nach Osten ziehen, um sein Glück dort zu versuchen.

Dann kam ich an die Reihe zum Erzählen. Als ich fertig war, fragte Evander:

"Du hast auf deiner Reise wirklich Amphion und Zethos getroffen?"

Ich nickte und mein Gesprächspartner fuhr fort:

"Die beiden sind Halbbrüder von dir, nicht wahr?"

Wieder nickte ich und musste über die Fertilität von Zeus lächeln.

"Aber wer war denn ihre Mutter", fragte Evander. "Weißt du etwas über sie?"

"Ja", sagte ich, "aber das ist eine lange Geschichte. Und schön ist sie auch nicht."

"Das Leben ist nicht immer schön", meinte Evander philosophisch, "aber ich werde es ertragen, wenn du erzählen willst." Er holte eine Kanne Wein, die er auf den Tisch stellte, dann sah er mich erwartungsvoll an.

"Es war zur Zeit, da Nykteus König von Theben war. Das heißt, eigentlich hieß die Stadt damals noch Kadmeia, nach Kadmos, ihrem Gründer. Nykteus und Polyxo hatten ein einziges Kind, eine Tochter, die sie Antiope nannten. Natürlich wurde die kleine Prinzessin von ihren Eltern verwöhnt. Sie lasen ihr jeden Wunsch von den Augen ab und nur das Beste war gut genug für sie. Aber wie auch in unserer Zeit sind gerade überbehütete und umsorgte Kinder oft diejenigen, die später in Schwierigkeiten geraten."

"Weil sie nie auf die Schattenseiten vorbereitet worden sind...", ergänzte Evander.

"Genau", sagte ich und fuhr dann fort:

"Als Antiope erwachsen wurde und gegen die schützenden Mauern im Elternhaus revoltierte, schlich sie sich oft heimlich davon, um das Leben kennen zu lernen. Sie saß oft am Waldrand und spähte hinunter auf das einfache Volk, wie sie im Schweiße ihres Angesichts ihre Äcker bestellten, wie sie miteinander stritten, aber auch wie fröhlich sie waren, wenn sie nach einer eingebrachten Ernte der Demeter zu Ehren ein Dankfest abhielten. Da tanzten und lachten sie und es kam vor, dass sie sich betranken, bis sie kaum mehr gehen konnten. Das alles war neu für Antiope, wilder und ausgelassener, vielleicht aber auch..." - ich suchte ein geeignetes Wort...

"Ehrlicher? Aufrichtiger?" Evander versuchte auszuhelfen.

"Ja, ungefähr. Nicht so gekünstelt, wie die Dinge am Hof gelehrt wurden." Ich machte eine hilflose Geste, weil es nicht unbedingt dem entsprach, was ich ausdrücken wollte. Deshalb erklärte ich weiter:

"Nykteus war ein ästhetischer Mensch. Ich glaube, dass er es schon ehrlich meinte, wenn er Antiope dazu anhielt, nicht laut loszuprusten, sondern ein geziertes Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Oder dass sie sich beim Tanz nicht vergessen solle, sondern darauf acht gab, mit gemessenen Schritten zu tanzen."


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Evander nickte mir zu, zum Zeichen, dass er verstand, was ich meinte.

"Ich erzähle das nur so eingehend", erklärte ich, "um zu zeigen, wie durchdacht die Strategie meines Vaters war, als er das Mädchen verführte. Zeus erschien ihr nämlich in der Gestalt eines Satyrn. Ich bin überzeugt, dass es ihm viel schwerer gefallen wäre, wäre er ihr als vornehmer, edler Mann erschienen. Diese Sorte kannte Antiope zur Genüge. Er wäre ihr dann vermutlich ebenso gekünstelt vorgekommen, wie die Freier am Hof. Nun, mein Vater konnte sicher auch als Satyr charmant sein und die junge Dame empfand die Mischung aus Charm und Spannung als unüberwindlich und gab sich hin. Natürlich zeigten sich bald die Folgen dieser Verbindung. Jetzt war guter Rat teuer. Auf keinen Fall konnte sich Antiope an ihre Eltern wenden - sie würden ihr diesen Fehltritt nie verzeihen. Also rannte sie von zu Hause weg.
Sie traf meinen Vater ein letztes Mal auf dieser Flucht. Der zeigte jetzt doch ein wenig Verantwortungsbewusstsein und riet ihr, nach Sikyon zu gehen und dort bei König Epopeus vorzusprechen. Er verriet ihr jetzt auch, wer er wirklich war und prophezeite ihr, dass sie Zwillinge gebären würde."

Ich musste gähnen. Mein Gastgeber fragte, ob ich schon zu müde sei, aber ich verneinte lächelnd und erzählte weiter.

Als Antiope nach Sikyon kam, suchte sie also den König auf. Epopeus war der jungen Schönheit mit den guten Sitten sofort verfallen. Sie beichtete ihm ihr Abenteuer, aber es schien dem König nichts auszumachen, Ziehvater von zwei Kindern des Zeus zu werden, denn er heiratete sie mehr oder weniger vom Fleck weg.
Es dauerte natürlich nicht lange, bevor man auch in Theben davon erfuhr. Und jetzt geschah etwas, was ich persönlich nicht verstehe. Antiopes Vater rüstete zum Krieg gegen Sikyon."

"Vielleicht fühlte er sich in seiner Ehre verletzt, weil Epopeus nicht um die Hand seiner Tochter angehalten hatte", schlug Evander vor. "Oder vielleicht war er so gekränkt darüber, dass Antiope einfach fortgelaufen war?"

"Möglich. Ich weiß es nicht." Ich zuckte die Schultern. "Auf jeden Fall war sich Nykteus sicher, dass er kein großer Feldherr war. Deshalb wandte er sich an seinen Bruder Lykos mit der Bitte, ihm bei diesem Feldzug beizustehen. Dieser Lykos war ein bekannter Kampfhahn, der sofort zusagte. So zogen sie gemeinsam gegen Sikyon. Kampfesunerfahren, wie Nykteus es war, fiel er gleich zu Beginn der Schlacht. Sterbend nötigte er Lykos das Versprechen ab, ihn zu rächen und Epopeus sowie Antiope zu bestrafen.
Lykos gelang es schließlich, Sikyon zu besiegen. Auch Epopeus verlor das Leben auf dem Schlachtfeld, während die nunmehr hochschwangere Antiope zu Fuß zurück nach Theben geschleppt wurde. Aber noch bevor sie die Stadt erreichten, kam sie nieder. Lykos zwang sie, ihre beiden Söhne, dort, wo sie sich gerade befanden, auszusetzen. Das war am Fuß des Berges Kithairon."

"Pfui Teufel, wie gemein", unterbrach Evander. "Aber das erklärt ja, warum die beiden bei einem Hirten aufgewachsen sind."

"Ja", bestätigte ich. "Sie sahen ihre Mutter erst wieder, als sie erwachsen waren. Inzwischen hatte Antiope kein leichtes Leben. Denn als sie nach Theben kamen, gab Lykos sie seiner Frau Dirke als Magd. Und Dirke war ein teuflisches Weib. Keine Untat war ihr zu schlecht, um sie Antiope zuzufügen. Sie begann damit, dass sie die junge Frau kahl scheren ließ und ihr nur einen rauen Sack als Bekleidung gab. Schlafen musste Antiope eingesperrt in einem dunklen Kellerverlies und untertags musste sie die schmutzigsten und ekligsten Arbeiten verrichten. Wenn sie sich weigerte, wurde sie von Dirke geschlagen. Aber ihre Herrin plagte sie nicht nur physisch, sondern sie wies auch eine schlimme psychische Verschlagenheit auf. Manchmal kam sie und erzählte, dass sie Nachricht über die beiden Söhne Antiopes erhalten habe, nur um dann fort zu gehen, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Manchmal erzählte sie, man habe die beiden Söhne tot aufgefunden.
Es ist für mich ein kleines Wunder, dass Antiope all diese Jahre überlebt hat."

Ich hielt ein, müde vom vielen Reden. Evander füllte meinen Becher auf und gönnte mir eine kleine Pause. Dann aber wollte er wissen:

"Und dann? Wie haben Amphion und Zethos dann ihre Mutter gefunden?"

Ich lächelte, weil ich mir schon gedacht hatte, dass diese Frage kommen musste...

"Ja, sie retteten ihr sogar das Leben", sagte ich. "Wie sie erfahren haben, dass ihre Mutter bei einem Fest des Dionysos geopfert werden solle, wollten sie nicht erzählen, als sie uns auf der Argo all dies berichteten. Aber ich vermute, dass sie eine göttliche Eingebung hatten. Möglicherweise steckte sogar Zeus dahinter, weil er fand, dass Antiope genug gelitten hatte.
Auf jeden Fall verkleideten sich Amphion und Zethos als Frauen, denn nur solche durften ja an den Dionysosfesten teilnehmen, und begaben sich auf den Hügel, wo das Opfer stattfinden sollte. Sie kamen gerade zurecht, als Dirke selbst einen Stier auf die Lichtung führte, hinter dem man eine Frau an ein Seil gebunden hatte. Und jetzt befestigte man soeben Fackeln an den Hörnern des Stieres, der natürlich, wenn die Fackeln angezündet wurden, vor Angst verrückt werden würde, losrasen und dadurch die Frau zu Tode schleifen würde."

"Grauenhaft", meldete sich Evander, der an meinen Lippen gehangen hatte. "Aber Antiope wurde von ihren Söhnen befreit?"

"Ja, aber das war gar nicht so einfach", erklärte ich. "Wohl hatten sie die Überraschung auf ihrer Seite, sodass es ihnen gelang, ihre Mutter vom Stier loszuschneiden. Aber dann sahen sie sich einer Meute extatischer Frauen gegenüber, die, nun einmal in Stimmung gebracht, diesem Opfer als Höhepunkt des Festes erwartungsvoll entgegensahen. Ein allgemeines Murren und einzelne, laute Drohungen kamen aus der Menschenmenge. Kurz entschlossen griff Zethos, der ja über riesige Kräfte verfügte, nach Dirke. Die Brüder banden die Peinigerin ihrer Mutter am Stier fest und entzündeten selbst die Fackeln, sodass Dirke ihre eigene Medizin zu spüren bekam. Den anderen Festteilnehmern war auch dies recht, sie hatten ja nur auf diesen Spektakel gewartet.
Einer, der mit dieser Lösung jedoch nicht zufrieden war, war Dionysos. Den genauen Grund weiß niemand. Möglicherweise war er wütend, weil das ihm zugedachte Opfer entkam, oder weil zwei Männer sein Fest entweiht hatten - auf jeden Fall rächte er sich an Antiope und schlug sie mit Wahnsinn. Als Amphiaros und Zethos nach dem entstandenen Tumult ihre Mutter suchten, konnten sie sie nicht mehr finden. Im Geist umnebelt wanderte Antiope dann noch ein paar Jahre durch ganz Griechenland, bevor sie auf Phokos, den Herrscher von Phokis traf, dem es gelang sie zu heilen und der sie später auch heiratete. So konnte Antiope wenigstens noch bis zum Lebensende ein erträgliches Dasein führen."

Es war inzwischen sehr spät geworden, aber ich hatte ja morgen einen faulen Tag vor mir. Trotzdem trank ich meinen Wein aus, verabschiedete mich von Evander, nahm eine Ölleuchte und stieg die Stufen empor zu meinem Nachtlager.


© Bernhard Kauntz, Västerås 2004


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