DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Neue Abenteuer der Argonauten


Ich bin jetzt in Athen, im Palast meines Freundes Theseus. Nun habe ich lange nichts in mein Tagebuch geschrieben, weil mich der Schmerz um meine Familie davon abhielt. Aber vielleicht hat Theseus recht, wenn er sagt, dass es mit der Zeit besser wird? Er hatte mich von hinten von dem hohen Felsen in Theben weggezogen, von dem ich hinunterspringen wollte. Ich hatte ihn nicht kommen hören. Dann hatte er mir erklärt, dass er nicht zulassen würde, dass ich mir das Leben nahm. Er war gekommen, um mich nach Athen zu holen und dort reinzuwaschen. Er würde mich zusammenbinden und auf dem Rücken tragen, wenn ich nicht freiwillig mitkäme.

Komischerweise hatte ich nicht die Kraft, ihn zu überzeugen, dass für mich nur mehr der Tod eine Zukunft bedeutete. Ich hatte ja schon mit meinem Leben abgeschlossen gehabt und es gab nicht einmal einen kleinen Funken Willen mehr in mir, der mir einen eigenen Entschluss erlaubt hätte. Wie ein Tier am Halfterband trottete ich neben meinem Freund einher, folgte ihm bis Athen.

Er sprach die ganze Zeit auf mich ein, aber ich war allzu apathisch, um auf seine Worte zu reagieren. Er erzählte mir von den weiteren Abenteuern, die meine Kameraden auf der Reise mit der Argo erlebt hatten, nachdem ich an Land zurückgelassen worden war.

"Wir waren schon dabei, das Schiff zu wenden", sagte Theseus, "als wir entdeckt hatten, dass du, Hylas und Polyphemos nicht an Bord waren. Doch dann tauchte Glaukos aus den Tiefen des Meeres auf und hieß uns weiterfahren. Dir sei ein anderes Schicksal bestimmt, erklärte er uns. Na ja, wenn die Götter es so wollen, so haben wir nichts dagegen zu setzen. Das ist ja schließlich gerade auch dir passiert."

Ich sagte nichts. Ich schleppte mich weiter an der Seite von Theseus, stumm und gequält, während er fortfuhr:

"Als wir das nächste Mal vor Anker gingen, war das im Land der Bebryken. Das ist ein ganz wildes Volk, wo nur das Recht des Stärkeren gilt. Sie wollten uns zuerst gar nicht an Land gehen lassen, um Wasser zu holen. Schließlich aber meinte ihr König - seinen Namen habe ich vergessen, aber er war wirklich nicht so wichtig - dass wir unser Wasser schöpfen durften, wenn einer von uns ihn im Faustkampf besiegen könne. Polydeukes meinte, dass dies eine Aufgabe für ihn sei und trat dem König entgegen. Mag sein, dass der Bebryke viel Kraft hatte, aber an Strategie und Technik war er klar unterlegen. Ich glaube, dass Polydeukes nicht einen einzigen, richtigen Treffer einstecken musste, bis er seinen Gegner besiegt, ja geradezu gedemütigt hatte. Bei diesen wilden Burschen gelangte ihm das klarerweise zur Ehre und nun widersetzte sich keiner, als wir an Land stiegen und unsere Vorräte auffrischten. Vor unserer Abfahrt verehrten die Bebryken Polydeukes sogar ein Wildschwein, einen großen Eber mit mächtigen Hauern."

Theseus hielt in der Erzählung ein, um sich einen Schluck aus seinem Wasserbeutel zu genehmigen. Gleich darauf sprach er aber weiter:

"Wir kamen nun an die Küste der Amazonen, aber Jason beschloss, dass wir hier nicht vor Anker gehen sollten, um die Feindlichkeit dieser Frauen nicht herauszufordern. Auch so wurden wir ein paar Mal vom Ufer aus mit Pfeilen beschossen. Diese nackten, einbrüstigen Weiber schienen ihren Nachbarn an Wildheit nicht nachzustehen. Obwohl unsere Vorräte knapp wurden, ruderten wir die ganze Nacht durch, um von diesen Gefilden weg zu kommen.

Ein paar Tage später landeten wir an einem ruhigen Strand und hatten uns wie gewöhnlich in Gruppen aufgeteilt, um die diversen Aufgaben zu erledigen. Ich war mit ein paar anderen zur Jagd eingeteilt. Wir gingen auf ein nahes Waldstück zu, als wir plötzlich vor einem Loch standen, das in einen Gang mündete, der schief unter dem Erdboden weiter hinunter führte. Wir fragten uns, ob dies vielleicht ein unbekannter Eingang zur Unterwelt sein könne und hielten Rat, ob wir vorbei gehen sollten - aber zuletzt war unsere Neugier doch größer. Wir ließen einen Mann als Wache zurück, während der Rest von uns in den Gang eindrang. Wir stießen auf ein ganzes Tunnelsystem, das anfangs ganz verlassen zu sein schien. Nach einer Weile hörten wir ein Klopfen und Hämmern, das allmählich lauter wurde, als wir dem Klang nachgingen. Wir trafen dann auf Mitglieder eines Stammes, der hauptsächlich unter der Erde lebt. Sie nennen sich Chalyben und lösen aus dem Erdreich Erze und Minerale, mit denen sie dann mit ihren Nachbarn Tauschgeschäfte machen, um sich die lebensnotwendigen Dinge einzuhandeln. Meiner Vorstellung von einem angenehmen Leben entspricht das zwar nicht, aber ich nehme an, dass ihre Geschäfte gut gingen. Sie behaupteten nämlich, dass es ihnen an nichts fehle und vor allem, dass sie mit den angrenzenden Stämmen in Frieden gelebt hatten, so lange sie sich erinnern konnten."

Theseus machte erneut einen Schluck aus seinem Wassersack, dann sah er mich an, schüttelte den Kopf und fuhr in seiner Erzählung fort.

"Schon am nächsten Tag wollten wir auf einer Insel landen, als wir plötzlich ein Brausen in der Luft hörten. Ein ganzer Schwarm großer Vögel, mit Schwingen wie aus Kupfer, war von der Insel aufgestiegen. Wir sahen noch verwundert empor, als diese Bestien plötzlich ihre Federn auf uns abschossen, die wie Pfeile wirkten. Drei von uns wurden getroffen, bevor wir unsere Schilde hochreißen konnten. Damit versuchten wir uns zu schützen, während wir so schnell wie möglich an der Insel vorbeifuhren. Das war gar nicht so einfach, denn die Hälfte von uns musste ja auch die Ruderer abschirmen, sodass es eine ganze Weile dauerte, bevor wir außer Reichweite waren. Zum Glück verfolgten uns diese Tiere nicht. Argos glaubte, dass es sich um die stymphalischen Vögel handeln musste, die in Arkadien überwintern, aber jetzt als Zugvögel nach Norden flogen.

Nun waren wir nicht mehr weit von unserem Ziel entfernt. Die Stimmung in der Mannschaft war gut, weil wir alle froh waren, dass wir diese lange Reise erfolgreich überstanden hatten. Jetzt galt es nur noch Jason beizustehen, damit er das goldene Vlies heimführen konnte.

Am Abend vor unserer Landung in Kolchis geschah aber noch etwas. Wir hörten laute Schreie, die zwar aus weiter Ferne kamen, aber dennoch eine furchtbare Qual ausdrückten. Als wir kurz darauf einen Adler über uns hinwegsegeln sahen, meinte Orpheus, dass dies der Vogel sein müsse, der dem Prometheus täglich die Leber fraß, weil der Titan ja am nicht allzufernen Kaukasus angeschmiedet war. Vermutlich war es auch so, denn bei unserer Abfahrt aus Kolchis sahen wir den Vogel in die andere Richtung fliegen und bald danach hörten wir wieder diese schaurigen Schreie und ein abgrundtiefes Stöhnen."

Theseus blieb stehen und sah mich ernst an.

"Du siehst also, dass du nicht der Einzige bist, dem die Götter ein schweres Los bestimmt haben... Jetzt aber lass uns ein wenig essen und dann ein Nachtlager suchen. Morgen erzähle ich dir von unseren Erlebnissen in Kolchis."


© Bernhard Kauntz, Västerås 2005


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