GESELLSCHAFTSKRITIK

GESCHICHTE


Ich war gerade dabei, meine Stunden für die nächste Woche vorzubereiten. Im Rahmen des Deutschunterrichts hatte ich geplant, den Schülern meiner Abgangsklasse einen Rückblick über die Geschichte meiner Heimatstadt zu geben.
Mitten in der Vorbereitung, als ich die Stützen, an die ich mich halten wollte, eben nocheinmal durchlas, knüllte ich spontan den Zettel zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Das, was auf dem Blatt stand, war in groben Zügen folgender Inhalt: Als Heerlager gegründet, durch feindliche Stämme verwüstet, abgebrannt. Vernichtungen, Belagerungen, Besetzungen, über das Mittelalter hinweg, bis in die Neuzeit. 1945 schließlich nochmals Zerstörung mit nachfolgender Okkupation und Vierteilung.
War es das, was unser Erbe ausmachte, worauf unser Stolz sich gründete, was wir an kommende Generationen weiterleiten sollten?
Ein Druck wich von mir, als ich die Papierkugel weggeworfen hatte. Ich verbrachte zwar eine schlaflose Nacht, weil, jetzt einmal aufgerührt, neue Gedanken, Ideen, Beispiele aus unserer blutigen Vergangenheit auf mich einstürmten. Aber am Montagmorgen hatte ich meinen Beschluß gefaßt.
Vermutlich war alles ganz wie gewöhnlich, als ich das Klassenzimmer betrat. Aber mir schien es, als ob die Luft mit Spannung geladen war, als ob meine Schüler heute aufmerksamer als sonst zum Katheder schauten. Einen Augenblick lang war ich versucht das ganze Problem von mir zu werfen und irgendeine grammatische Übung durchzuführen. Dann aber faßte ich mich und begann zu sprechen.
"Eigentlich wollte ich Ihnen heute einen historischen Überblick geben, aber ich habe mich entschlossen, das Programm ein wenig zu ändern. Wenn Sie wollen, dann gehen Sie zur Bibliothek und leihen Sie sich ein Geschichtsbuch aus, denn natürlich gehört es zur Allgemeinbildung, über die Vergangenheit Bescheid zu wissen.
Worüber ich heute zu Ihnen sprechen möchte, hat zwar indirekt mit Geschichte zu tun, sollte aber gleichzeitig dazu dienen, Sie ein wenig zum Nachdenken anzuregen. Vielleicht grenzt unser heutiges Thema an Utopie, aber lassen Sie mich es optimistischerweise Futurologie nennen."
Nach dieser ein wenig kryptischen Einleitung machte ich eine Pause. Ich war nun sicher, daß ich die Aufmerksamkeit der Schüler hatte, denn das war nicht eben ein normaler Beginn einer Fremdsprachenlektion.
Ich stand auf und setzte mich auf den Katheder, teils um der Klasse so näherzukommen, teils um von diesem erhöhten Platz bessere Wirkung zu erzielen. Ich erzählte zuerst, was mir bei der Vorbereitung in den Sinn gekommen war, und fuhr dann fort:
"Es gilt hier nicht, die Geschichte einer Stadt oder eines Landes zu verurteilen, es geht vielmehr um die Geschichte unserer Welt. Immer schon wurde der Name eines Feldherrn oder Regenten für wichtiger gehalten als der eines humanen, nutzbringenden Mitbürgers. Gehen Sie doch hinaus auf die Straße und fragen Sie die Leute wer Napoleon war. Und vergleichen Sie dann die richtigen Antworten mit denen auf die Frage: 'Wer war Semmelweis?'"
Ich spürte die leise Unruhe in der Klasse, die ihren Grund in der Unkenntnis des Namens hatte, und fügte daher hinzu:
"Doktor Ignaz Semmelweis war ein Mediziner, der als Erster die Ursachen des Kindbettfiebers erkannte und damit vielen Müttern das Leben rettete. - Nun, meiner Meinung nach verdient es der Arzt in viel höherem Grad, in die Geschichte einzugehen, als ein machtbesessener, vernichtungswütiger Herrscher."
Ich machte wieder eine Pause, um den Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Zwanzig Augenpaare sahen mich an, als ich weitersprach.
"Es gibt tausende solcher Beispiele, und das ist traurig genug. Schlimmer noch ist, daß auch in unserer Zeit keine Veränderung abzusehen ist. Auch heute werden unsere Staatsmänner und Politiker als viel interessantere Personen eingestuft als Menschen mit Schöpfungskraft, die der Menschheit vorwärts helfen. Politiker werden sogar teilweise wie Gottheiten verehrt, obwohl sie doch nur die Handlanger der Völker sein sollten. Man gibt dem Staatsbürger in günstigen Fällen die Freiheit zwischen politischen Richtungen zu wählen, aber in den wichtigen, entscheidenden Fragen gibt man ihm kein Stimmrecht."
Ich war wieder ziemlich abstrakt geworden, deshalb beeilte ich mich ein Beispiel einzufügen.
"Glauben Sie, daß die Mehrzahl der Amerikaner dafür war, über Japan zwei Atombomben abzuwerfen? Und glauben Sie, daß die Menschheit unserer Zeit es befürwortet, Vernichtungsarsenale von gigantischen Ausmaßen anzulegen? Und dennoch ist es so. Die Angst vor dem Mitmenschen läßt uns immer stärkere Vernichtungswaffen bauen. Natürlich nur zur Verteidigung, wie immer versichert wird. Bis ein ausreichend verrückter Politiker an die Macht kommt, der sie dann als Anfallsmittel verwendet.....
Die Angst regiert unsere Welt, was bei unserer Geschichte gar nicht so verwunderlich ist. Und die natürliche Angst vor dem Unbekannten, vor dem, das anders ist, wird von gewissen Interessenten kräftig geschürt. Die Rüstungsindustrie ist genau wie der Berufssoldat interessiert daran, daß diese Angst am Leben bleibt."
Der letzte Satz war nicht gut gewählt gewesen. Er hatte vielleicht zu tief getroffen, direkte persönliche Stellungnahme bei meinen Schülern ausgelöst. Waldemars Vater, zum Beispiel, war Major und Annettes Vater ein hohes Tier in der Stahlindustrie. Ich ahnte die Unlustreaktion mehr als sie tatsächlich bemerkbar war. Aber, zum Teufel auch, jetzt wollte ich mit dem Rest auch noch heraus.
"Und um die Angst wachzuhalten haben wir seit jeher Menschen zu Soldaten ausgebildet. Wir haben hauptsächlich junge Menschen herangezogen, in der Hoffnung, daß die Jungen dieses Problem noch nicht durchdacht haben. In Friedenszeiten, wenn also kein Grund vorliegt, einem Menschen das Töten zu lehren, stellen wir den Militärdienst als Selbständigkeitsübung und Mutprobe dar. - Kinder, das ist doch lächerlich. Denkt doch einmal nach! Ist es mutig, andere Leute zu ermorden, weil sie anders denken?"
Ich hatte die Unruhe wieder beseitigt. Meine Zuhörer dachten über diese neue Winkelung nach. Ich ließ sie eine Weile denken.
"Ist es mutig", griff ich dann die Frage nochmals auf, "auf andere Leute, Menschen wie du und ich, auf Menschen Bomben zu werfen, sie kaltblütig zu erschießen? Ich glaube es nicht. Ich glaube genau das Gegenteil. Es ist Feigheit von uns, Anderes nicht akzeptieren zu können, nicht verstehen zu wollen! Und was die Selbständigkeit betrifft - warum schicken wir unsere Jugend nicht ein Jahr lang fort, ins Ausland? Im Dienst der Vereinten Nationen zum Beispiel. Aber nicht als Soldaten, sondern als Helfer und Lehrer in die Entwicklungsländer. Unser Gewinn wäre groß. Denn glaubt mir, mir als Ausländer, daß man nirgends so gut lernt sich anpassen zu müssen, andere Auffassungen zu berücksichtigen, wie im Ausland.
Ich schwieg wieder eine Weile, um die Worte versickern zu lassen, als Waldemar demonstrativ nach seiner Tasche griff. Er stieß Joachim, seinen Nachbarn, mit dem Ellenbogen in die Seite und beide standen auf.
"Dreckiger Immigrant! Kommunistenschwein!" Waldemar spuckte die Worte aus als die beiden auf dem Weg zur Tür waren, die sie dann mit einem lauten Krach hinter sich zuschlugen. In der Klasse war es totenstill. Mein Magen krampfte sich zusammen und ich brauchte eine Weile, bevor ich die Sprache wiederfand.
"Seht ihr", sagte ich leise, "so stark können die Vorurteile sein, die uns anerzogen werden. Aber so geht es uns allen. Wir alle sind so stark beeinflußt von unserer Umwelt, daß wir es natürlich finden, wenn man den Friedensnobelpreis an Präsidenten wie Sadat und Begin verteilt. An Leute also, die das Töten nicht nur gutheißen, sondern es indirekt täglich ausüben. Und wenn sie tausendmal Frieden schließen, weil sie sich womöglich davon noch persönlichen oder wirtschaftlichen Erfolg versprechen, ist das keine große Tat. Der Frieden sollte das Natürliche sein, nicht erst etwas, das man belohnen muß. Und deshalb scheint es mir, als ob jeder Einzelne, der sich entschließt dem Frieden zu dienen und zum Beispiel sich weigert den Wehrdienst zu vollführen, viel mutiger ist, als wir anderen alle zusammen. Jeder, der das Problem durchdenkt und aus diesem Grund nicht lernen will wie man seine Mitmenschen ums Leben bringt, erscheint mir viel mehr wert, den Friedenspreis zu erhalten. - Denkt daran, wenn ihr im Gechichtsbuch nachlest, worüber wir heute nicht gesprochen haben."
Die Klasse saß wie versteinert. Ich selbst war ausgepumpt, leer, aber gleichzeitig frei und glücklich.
"Den Rest der Stunde gebe ich euch frei", sagte ich. "Und ich hoffe, ihr verwendet die Zeit dazu, ein bißchen nachzudenken. Nachzudenken über das, was ich heute gesagt habe."
Als ich mich über das Klassenbuch beugte, um die Stunde einzutragen, begann jemand, in den hinteren Reihen, zu applaudieren. Dann waren es zwei, dann noch ein paar, und als ich zur Tür ging, klatschte die ganze Klasse in die Hände.

Hinzuzufügen wäre noch, daß ich natürlich meine Stellung verlor. Aber jedesmal, wenn ich darüber traurig bin, weil es mir schwerfällt, eine neue Arbeit zu finden, denke ich an das Klatschen der Kinder.
Und es gibt sogar Augenblicke in denen ich mich frage, ob es den Preis nicht wert war, wenn ich in dieser Stunde vielleicht ein kleines Samenkorn gesät hatte.

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås, Schweden 1996


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