Das Märchen vom
Stein der Lebensweisheit


Es war einmal, vor langer, langer Zeit, ein großer Streit zwischen den vier Winden, wer von ihnen wohl am besten zu leben wußte.
"Ich", rief der Nordwind mit dröhnender Stimme, "denn ich mache gerade was mir gefällt. Ich komme mit Schnee und Eis und nichts kann mir widerstehen."
"Nein, ich", schrie der Ostwind. "Denn ich bin ausdauernd, mir kann niemand etwas anhaben."
"Pah", machte der Westwind. "Ich kümmere mich nicht darum, ob mir jemand widersteht oder ob mir jemand etwas anhaben will, ich gehe meinen Weg und bin es so zufrieden."
Der Südwind lachte: "Und das wollt ihr leben nennen? Nein, der am besten zu leben weiß, das bin ich. Mein Gemüt ist warm und heiter, wie ein sonniger Strand am Meer."
Als sie nun miteinander stritten und sich fast schon in den Haaren lagen, kam eine hübsche Fee ihres Weges. Verwundert hörte sie ein Weilchen zu, bevor sie mit ihrer klingenden Stimme die Winde unterbrach. Als sie zu reden begann, hielten die Winde ein und sahen sie ganz verzückt an. Denn noch nie hatten sie etwas Lieblicheres gesehen, obwohl sie schon viel in der Welt herumgekommen waren.
Und als sie so den tönenden Worten lauschten, wurden sie immer stiller, immer mehr verzaubert von den Geheimnissen, die die Fee ihnen offenbarte.
Ob sie denn nicht wüßten, fragte die Fee, daß alle Lebensweisheit in einer Kammer verborgen wäre. Der Weg dorthin sei weit, und der, der ihn gehe, müsse wohl dafür geeignet sein. Außerdem sei es nur menschlichen Wesen möglich, diese Wanderung zu vollziehen. Aber der, der den Weg zur Kammer fände und auch das letzte Hindernis bewältige, würde in dieser Kammer einen kostbaren Stein finden. Und der, der diesen Stein besitze, würde all der Weisheit teil, die er benötigte, um ein gutes Leben zu führen.
Die Fee schlug den vier Winden vor, daß sie genau in einem Jahr wieder zusammentreffen sollten und da sollte jeder von ihnen einen Menschen ausgewählt haben, den er für fähig hielt, diesen Stein als Erster zu finden. Aber - auch sie, die Fee, dürfe einen Teilnehmer aussuchen - und sollte es ihrem Günstling gelingen, den Stein zu erlangen, dann sei das Geheimnis auf ewige Zeiten bei ihr bewahrt. Sollte ein anderer zuerst ans Ziel kommen, sei es dem Wind, der den Menschen auserwählt hatte, gestattet, frei darüber zu verfügen.
Den vier Winden war dies recht. Und so gingen sie alle auseinander, um ein ganzes Jahr lang die Menschen zu beobachten, um einen zu finden, der ihnen geeignet zu sein schien.
Und sie suchten und spähten in jede Hütte, in jedes Kämmerlein, sahen den Menschen bei der Arbeit zu, lasen ihre Gedanken und scheuten kein Mittel, um den Rechten zu finden.
Nach einem Jahr, genau auf den Tag, hatten sie alle ihre Wahl getroffen und kehrten zurück an den Platz, wo sie sich versammeln sollten.
Der Ostwind war zuerst da. Mit ihm zusammen war ein grobschlächtiger Kerl, dem man die Zähigkeit ansehen konnte. Er hieß Boris und war in derbe Bauerntracht gekleidet, die allen Wettern trotzte.
Ein sachtes Säuseln war in der Luft zu vernehmen, als der Westwind mit seinem Begleiter daherkam. Dies war ein schlanker, junger Mann von artigem Wesen, wenngleich auch ein wenig eingebildet. Sein Name war John, doch das tut nichts zur Sache; was auffiel, war der Regenschirm, den er elegant über den Arm gehängt trug.
Der Südwind kam mit Alberto, der mit einem vergnügten Pfeifen auf den Lippen die anderen herausfordernd ansah. Das offene, kurzärmelige Hemd brachte seine sonnengebräunte Haut zur Geltung, ließ ihn aber frierend erschauern, als der Nordwind mit einem heulenden Brausen daherblies. Mit ihm war Per, ein bärenstarker Mann, in eine Jacke aus Schafspelz gehüllt und mit einer dicken, gestrickten Mütze auf dem Kopf.
Zuletzt kam die Fee. Die ganze Szenerie erhellte sich in einem strahlenden Glanz und alle sahen sie verzaubert an, wie beim ersten Mal. Sie hatte ein munteres Bürschchen gewählt, dem der Schalk aus den Augen sprang wie lustige Blitze. Der Junge in der Lederhose hieß Franz und er ließ den Blick spitzbübisch in die Runde schweifen.
Die Fee hub an zu sprechen und erklärte den fünf Menschenkindern worum es ging, samt wie sie zu Wege gehen müßten, um den kostbaren Schatz zu finden. Alle fünf erhielten auch das Nötige, was sie an Wegzehrung und sonstigen Kleinigkeiten gebrauchen können würden - und dann zogen sie los.

Anfangs hielten die fünf alle zusammen und schritten guten Mutes drauf los, aber es wollte keine richtige Unterhaltung aufkommen. Und als Per, kurz nach Mittag, zu knurren begann, daß sie in diesem Schneckentempo wohl niemals ans Ziel kommen würden, begann sich die Gruppe aufzulösen.
Alberto und Franz setzten sich gemütlich auf einen Stein, um in der ärgsten Hitze ein wenig zu verschnaufen; John war es ohnehin lieber, allein zu sein; während Boris versuchte mit Per Schritt zu halten. Aber nach zwei neuerlichen Stunden, als sie in gebirgiges Gelände kamen, merkte Boris, daß er es nicht mehr schaffte.
So zog Per allein weiter und so kam es, daß er, schon wieder beim Abstieg, die Hilferufe vernahm, die hinter einem Felsen hervorkamen.
Vorsichtig ging er näher und entdeckte einen alten Mann, der, blutig und mit zerfetzten Kleidern, dort am Boden lag.
"Was ist denn geschehen", fragte Per mit seiner brummigen Stimme.
Hilflos berichtete der Alte, daß er von einer Räuberbande überfallen worden war, die ihm nicht nur seinen Maulesel weggenommen hatte, der mit reichen Dingen beladen gewesen war, sondern auch ihn, einen wehrlosen, alten Mann, verspottet, verprügelt und zuletzt hier zu Boden geworfen hatten.
Per wurde sehr böse, als er diese Geschichte hörte; zornig fragte er, in welcher Richtung die Räuber entschwunden wären.
Der Alte zeigte mit zittriger Hand auf einen schmalen Pfad, der weiter in die Berge hineinführte. Kaum hatte Per den Steig erspäht, als er gleich davonstapfte und über die Schulter dem Alten zurief, daß er ihm wahrlich seinen Maulesel zurückbringen werde. Damit ging er und er war schon zu weit weg, um die Einwände des Alten zu hören, der ihm nachrief, daß seine Waren ihm nicht so wichtig seien, wie sein Leben. Von Per jedoch fehlte seitdem jede Spur.
Boris war der nächste, der den Bergpaß überstiegen hatte und beim Abstieg an der Stelle vorbeikam, wo der Alte lag. Dr grobschlächtige Bauer war jedoch so in die Gedanken an seine Aufgabe vertieft, daß er die kärgliche Stimme des Alten gar nicht erfaßte, sondern einfach weiterging.
Gegen Abend kam der dritte Mann vorbei. John hörte wohl die verzweifelten Hilferufe, aber es war immer schon sein Leitspruch gewesen, sich nicht um die Kümmernisse anderer Leute zu sorgen, zu leicht konnte man sonst seinen Teil davon abbekommen. Und auch er ging weiter.
Alberto und Franz waren den ganzen Tag lang zusammen gewandert, bis sie die Paßhöhe erreicht hatten. Hier bot sich eine unwahrscheinlich schöne Aussicht. Die Sonne stand schon ziemlich tief, aber ihre Strahlen reichten noch dazu aus, den Paß und die umgebenden Gipfel in rosarotes Licht zu tauchen. Die beiden sahen sich das Schauspiel eine Weile lang an, bis Franz mahnte, daß sie noch einen weiten Weg hätten und damit den anderen zum Weitergehen überreden wollte. Alberto jedoch überhörte diese Einwände und meinte, sie könnten doch genauso gern schon dort oben übernachten. Deshalb trennten sich ihre Wege.
Es dämmerte schon stark, als Franz an dem großen Felsen vorbeikam, wo der Greis immer noch verzagt rufend lag. Vorsichtig tappte Franz um den Stein herum, hinter dem er die Stimme gehört zu haben glaubte und fast wäre er auf den Greis getreten, so dunkel war es schon. Nachdem dieser seine Geschichte erzählt hatte, untersuchte Franz, so gut dies in der Finsternis nun möglich war, ob alle Knochen des Alten noch heil waren.
"Gebrochen scheint nichts zu sein", murmelte Franz, während er den anderen ein wenig aufrichtete. Daraufhin labte er ihn mit Brot und Wasser, bevor er ihn unter den Schultern faßte und ihm auf die Beine half.
"Hier kannst du ja nicht liegenbleiben", meinte er dann. "Hier erfrierst du ja sonst während der Nacht. Ich werde dir den Berg hinunterhelfen, bis wir auf Menschen stoßen. Wir werden das schon schaffen, wir zwei."
Und er schleppte den Alten, teils stützend, teils ihn tragend, die ganze Nacht lang den Berg hinab. Oft, wenn Franz einen Stein am Weg übersah, stolperten sie und einige Male wären sie fast abgestürzt. Aber immer gab es irgendwo noch einen festen Halt, an den sie sich im letzten Augenblick anklammern konnten. Es schien, als ob sie von höheren Wesen beobachtet und beschützt wurden.
Sie hatten natürlich manche Pause machen müssen, denn trotz seines hohen Alters war der Greis immer noch eine schwere Bürde. In den Pausen erzählten sie einander ein wenig, der Alte aus seinem Leben, während Franz über den Auftrag sprach, den er gerade auszuführen versuchte.
Im Morgengrauen waren sie endlich zum letzten Abhang gekommen und vor ihnen breitete sich flaches Land aus, nur einige bewaldete Hügel verliehen dem Bild ein wenig Abwechslung. Auf einen dieser Hügel, gleich rechts von ihrem Weg, zeigt der Alte.
"Da drüben wohnt mein Bruder in einem kleinen Haus. Wenn ich nur dorthin komme, wird er mir weiterhelfen. Und Gott vergelte es dir, mein Junge, was du für mich getan hast." Bescheiden und ein wenig verlegen wehrte Franz ab und nach einer neuerlichen kurzen Pause begaben sie sich auf das letzte Stück des Weges. Bald waren sie beim Haus des Bruders angekommen und als der Alte von seinem Mißgeschick und über seinen Helfer erzählt hatte, wurde Franz genötigt, sich wenigstens ein paar Stunden auszuruhen, bevor er seinen schweren Weg weiter verfolgte.
Obwohl Franz jetzt fühlte, daß er Eile hatte, war er dennoch todmüde nach dieser anstrengenden Nacht und er nahm die Gastfreundschaft dankend entgegen.
Kaum hatte die Sonne jedoch ihren höchsten Punkt erreicht, als Franz in dem weichen Daunenbett herrlich ausgeruht erwachte und sich an seine Pflichten erinnerte. Als er in die gute Stube trat, wurde ihm ein einfaches, aber köstliches Essen serviert, bevor ihn die beiden Brüder weiterziehen ließen.
Der Alte verabschiedete sich von Franz mit vielen Worten der Dankbarkeit und drückte ihm schließlich einen kleinen, metallenen Schlüssel in die Hand. Als Franz ihn verwundert und fragend ansah, sagte er: "Du wirst schon sehen, wozu du ihn gebrauchen kannst, wenn es erst so weit ist. Verwahre ihn wohl und Gott behüte dich, mein Junge." Damit war Franz wieder allein und er eilte zur Straße zurück, sodaß er endlich seinem Ziel wieder näherkomme.

Die anderen drei hatten einstweilen natürlich einen gehörigen Vorsprung bekommen, sogar Alberto hatte Franz inzwischen überholt. Allen voran aber war Boris, der nicht gerade schnell ging, aber mit einer Stetigkeit, die ihn zu keinen langen Pausen zwang. Der Weg führte schnurgerade in die Ferne, manchmal eben, zeitweilig ansteigend oder abschüssig, vorbei an Wäldern, Seen und Bergen. Spät am Abend des zweiten Tages kam Boris zu einem riesigen Wasser.
Er beschloß, sich die Nacht über auszuruhen, bevor er über den nächsten Schritt nachdachte. Boris schlug sein Lager unter einer dicken Tanne auf, schlief tief und fest die ganze Nacht durch, bis ihn der erste Sonnenschein in der Nase kitzelte und er mit einem kräftigen Nießen wach wurde.
Das Wasser vor ihm bot einen schönen Anblick; hellblau spiegelte es den Himmel und die Morgenbrise kräuselte die Oberfläche ein ganz klein wenig, sodaß sie glitzerte wie tausende Edelsteine, als die Sonne mit ihren goldenen Strahlen darauf spielte.
Das andere Ufer war weit, weit weg. Mit den Augen kaum erreichbar, ahnte man einen dunklen Strich, der wohl das gegenüberliegende Ufer kennzeichnete. Boris überlegte nicht lange, er mußte hinüber und also warf er sich in die Fluten. Er teilte das Wasser mit sicheren Stößen, kräftig und vorwärtsstrebend und bald konnte man seinen Kopf nur mehr als kleinen Punkt in der Ferne erkennen.
Da erreichte John als Zweiter das Ufer. Er war tüchtig marschiert, das Ziel fest vor den Augen, aber er fühlte ich jetzt, am Morgen des dritten Marschtages schon ziemlich matt, er hatte einen großen Teil seiner Kräfte verbraucht. Mißmutig, ohne sich der Aussicht zu erfreuen, starrte er hinüber ans andere Ende des Gewässers. Er wußte, daß er es nicht wagen konnte, hinüberzuschwimmen, seine Muskeln schmerzten allein bei dem Gedanken daran. Nachdenklich wanderte er ein Stück am Ufer entlang. Da - fast hätte er, ganz gegen seine Gewohnheit, laut aufgelacht, da lag ein Boot am Strand. Ein kleines Boot zwar, aber fest und sicher seetüchtig. Er beschleunigte seine Schritte, aber als er näher kam, sah er, daß der Kahn an einem Baum festgebunden war. Zornig riß John an der Kette, deren starke Glieder jedoch nicht nachgaben.
Fast hätte er jetzt aufgegeben, aber der Gedanke an den kostbaren Stein, den zu gewinnen er so sicher gewesen war, trieb ihn wieder hoch. Ärgerlich schickte er sich an, am Ufer entlangzugehen und das Wasser zu umrunden.
Der Nächste war Alberto, der das Gestade um die Mittagszeit erblickte. Sorglos einherschlendernd stieß er einen Pfiff der Überraschung aus, als er das Hindernis vor sich liegen sah. Mit Daumen und Zeigefinger strich er sich über das Kinn, während er interessiert die Entfernung zum anderen Ufer abschätzte. Nein, er sah ein, daß das für ihn zu weit war. Aber auch er fand kurze Zeit später das kleine Boot und auch er wurde enttäuscht, als er es angekettet fand. Wütend gab er dem Boot einen Tritt, sodaß er dann mit schmerzlichem Gesicht seinen Knöchel reiben mußte, der gegen die harten Bretter gestoßen war. Er musterte den Strand zu beiden Seiten, doch nirgendwo konnte er ein Ende sehen, ja nicht einmal eine schmale Stelle, wo die Überquerung leichter gewesen wäre. Kräftig schimpfend ließ er sich an der Seite des Kahnes nieder und wartete darauf, daß etwas geschehen würde.
Aber bis zum späten Nachmittag passierte gar nichts. Die Sonne leuchtete unverdrossen, das Wasser schlug plätschernd gegen die Steinchen am Strand, ein paar kleine Vöglein flogen zwitschernd zwischen den Ästen der Bäume umher.
Zwei Stunden vor Tagesende kam Franz, fröhlich einherschreitend, an den Rand des mächtigen Wassers. Alberto, inzwischen schon wieder besser gelaunt, ging ihm entgegen und begrüßte ihn.
"Da komme ich nie im Leben hinüber", meinte Franz ein wenig niedergeschlagen und Alberto stimmte ihm zu.
"Wenn dieses dumme Boot nur nicht festgemacht wäre", sagte Alberto nach einer Weile und schlug mit der Faust in die Handfläche.
"Ein Boot?" Franz sah ihn verwundert an. "Wo?"
Alberto zeigte ihm den Weg dahin und als Franz die Kette und das feste Schloß betrachtete, das sie am Weiterkommen behinderte, fiel ihm wieder der Schlüssel ein, den er von dem Alten bekommen hatte. Froh zog er ihn aus der Tasche seiner Lederhose und -klick- war das Schloß geöffnet und -schwupp- war das Boot im Wasser.
"Ach, bitte, nimm mich doch mit", bettelte Alberto. "Du darfst dir auch etwas von mir wünschen, wenn ich es nur erfüllen kann."
Franz war nicht schwer zu überreden und so sprangen sie beide in das Boot und ruderten singend und lachend hinüber, dem anderen Ufer zu.

John war inzwischen den ganzen langen Tag gewandert, brennend vorwärtsgetrieben von dem Wunsch eine Brücke oder das Ende des Gewässers zu finden, doch er ging und ging, ohne die geringste Möglichkeit zu sehen, wie er zum Ziel gelangen könnte. Und auch von ihm fehlte seither jede Spur.
Boris war, stetig einherschwimmend, fast in der Mitte des Sees angelangt, als irgendeine Strömung ihn ergriff, die ihm das Vorwärtskommen sehr erschwerte und die ihn auch ein beträchtliches Stück vom geraden Weg abbrachte. Als er endlich auf der anderen Seite an Land klettern konnte, fiel er vor Müdigkeit fast um und er mußte sich viele Stunden lang ausruhen, um diese Erschöpfung abschütteln zu können. Am späten Nachmittag machte er sich jedoch wieder auf die Beine, am Strand entlanggehend, um das Stück, das er schwimmend abgetrieben worden war, wieder wettzumachen.
Daher kam es, daß er den Weg gerade zu der Zeit erreichte, als Alberto und Franz das Boot aufs Trockene hinaufzogen, damit es vom Wasser nicht weggetrieben werden konnte. Die drei übernachteten nun zusammen und brachen am nächsten Morgen auch gleichzeitig auf, um das letzte Stück des Marsches zu bewältigen.
Und schon nach ein paar Stunden, noch bevor es richtig warm geworden war, sahen sie sich am Ende der weiten Wanderung. Vor ihnen türmte sich eine kahle, senkrechte Felswand auf, die fast bis in den Himmel zu reichen schien. Unten an der Wand, gerade vor ihnen, waren drei Türen in den Fels eingelassen.
Nun besagte das Wort der Fee, daß sich jeder für eine einzige Tür entscheiden mußte. War es die falsche, dann waren ihm die beiden anderen verwehrt. Da standen nun die drei Menschen, ein wenig zaudernd, unschlüssig welche Tür wohl die richtige sein mochte.
Schließlich gab sich Boris einen Ruck, zog den Kopf ein wenig zwischen die Schultern und ging auf die mittlere Tür zu. Er legte die Hand auf den Türgriff, zögerte nocheinmal, dann drehte er den Griff und zog die Tür auf. Die nackte Felswand starrte ihm entgegen. Boris ließ den Kopf noch ein wenig tiefer sinken und setzte sich dann ins Gras neben dem verbauten Eingang.
Dann warf Alberto die Schultern zurück, hob den Kopf und ging auf die linke Tür zu. Als er schon auf halbem Weg war, rief Franz ihm nach:
"Warte! Du hast gesagt, daß du mir eine Bitte erfüllst, wenn du es nur kannst. - Nun, ich bitte dich, nimm die andere Tür."
Verwirrt drehte sich Alberto um, unentschlossen, dann sagte er aber lachend:
"Gut, das ist mir auch recht. Wir müssen ja dennoch die gleichen Chancen haben."
Damit wandte er sich zur rechten Seite, ging zur Tür, drehte den Griff an ihr, zog sie auf - und warf sie mit einem lauten Krachen wieder zu. Auch er hatte nur grauen Stein hinter dem Eingang gefunden. Ein paar Minuten des Schweigens vergingen. Dann kam Alberto auf Franz zu, schüttelte ihm die Hand und sagte:
"Gratuliere! Wieso hast du gewußt, daß es die linke Tür war?"
Franz schüttelte ergriffen den Kopf.
"Gewußt habe ich es nicht, aber vielleicht geahnt."
"Wieso", fragten Alberto und Boris gleichzeitig.
"Weil links das Herz sitzt", erwiderte Franz.
Dann ging er langsam zur linken Seite, drehte fast demütig den Griff und öffnete die Tür. Ein strahlender Glanz schlug ihm entgegen. Überwältigt blieb er im Eingang zu der Kammer stehen. Zwei, drei Meter vor ihm, auf einem Brett aus schwarzem Samt, lag der Stein, groß wie eine Faust vielleicht. Der Stein schien ein eigenes Licht auszusenden, ein Licht, das in allen Farben des Regenbogens erglühte, bunt gemischt, vom dunklen Rot bis zum strahlenden Grün. Dann erst gewahrte er die Fee, die seitlich des Steins in der Kammer gewartet hatte.
"Gut gemacht, Franz", sprach sie mit ihrer glockenklaren Stimme. "Du hast den Stein der Lebensweisheit gefunden, weil du selbst genug davon hast. Selbstvertrauen, Ausdauer, Kraft, Fröhlichkeit - all das sind nur Teile eines harmonischen Lebens. In dir sind sie alle vereint."
Sie hielt Franz ein Säckchen mit Perlen und kostbaren Edelsteinen hin.
"Nimm das als Dank für deine Mühe. Ich habe nachgedacht, was ich dir schenken könnte, als Belohnung, aber ich habe eingesehen, daß du alles hast, was du zu einem glücklichen Leben benötigst. So nimm die Steine als Andenken, mögen ihre Schönheit und nicht ihr Wert dich erfreuen und erinnern an das Erlebnis, das du gerade hinter dich gebracht hast.
Ich danke dir dafür, daß du mir den Stein zurückgebracht hast. Vor langer Zeit hat ihn ein Zauberer mir gestohlen und ihn hierherverbannt, bis jemand die Bedingungen erfüllen würde - was du soeben vollbracht hast."
Als Franz sich gerade verbeugen wollte, um seinerseits seinen Dank für das fürstliche Geschenk vorzubringen, verschwand die Fee mit ihrem Stein, ohne daß Franz sagen können hätte, in welcher Richtung sie entschwunden war.

Froh und innerlich glücklich machte sich Franz auf den Rückweg, nicht ohne ein paar Tage bei den Brüdern zu verbringen, wo er so freundlich bewirtet worden war. Die Verletzungen des einen waren in der Zwischenzeit bereits wieder verheilt und die zwei alten Männer freuten sich mit Franz über den Erfolg.
Daheim durchlebte Franz ein langes, glückliches Leben, und manchmal, wenn er seinen Kindern und Enkelkindern die edlen Steine zeigte, erzählte er ihnen von den anstrengenden, aber freudenreichen Tagen, als er der Fee ihren Stein zurückgebracht hatte.
Die Winde jedoch, erbost und betrübt über den Sieg der Fee, fuhren fort sich zu streiten, wer von ihnen wohl am besten zu leben wisse.
Der Nordwind kam mit Schnee und Eis daher, er machte die Menschen stark und hart; der Westwind ergoß sich mit Regen und Nebel, sodaß die Menschen griesgrämig und verdrossen wurden; der Ostwind dörrte das Land aus, unter ihm mußten die Menschen zäh und ausdauernd arbeiten, um den Boden fruchtbar zu machen; und der Südwind blies weiterhin die warme Luft vom Meer und die Menschen lachten und badeten, waren aber auch zu Tode betrübt, wenn sie die Schicksalsschläge des Lebens zu spüren bekamen.
In der Mitte jedoch, wo die Winde abwechselnd ihren Einfluß geltend machten, lebten die Menschen harmonisch und in Liebe zueinander und zu Gott. Vielleicht kam dies aber auch daher, daß die Fee alle hundert Jahre einem Nachkommen des Franz heimlich über Nacht den Stein der Lebensweisheit auf das Kopfkissen legte.

© Bernhard Kauntz, Västerås, Schweden, 1975 & 1997


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