DAS HAUS
DER GESCHICHTE

1963 - 1974:
Kontinuität und Wandel


Das Wirtschaftswunder führte zu einem Arbeitskräftemangel. Schon 1960 gab es mehr offene Stellen als Arbeitslose. Die Wirtschaft brauchte aber mehr Arbeiter, um sich weiterentwickeln zu können. Die Lösung dafür war natürlich, dass man Arbeitskraft importierte. Man warb die Gastarbeiter vorzüglich aus den Mittelmeerländern an, wo das Einkommen damals schon deutlich niedriger lag als in Deutschland. Im Bild links sieht man die Bronzefigur von Guide Messer, genannt "Der Ausländer". (Sie wurde ein paar Jahre später auf "Der Reisende" umgetauft - aus welchem Grund auch immer ...)
Am 15. Oktober 1963 übernahm Ludwig Erhard die Rolle als Bundeskanzler nach Konrad Adenauer. In der Wahl 1965 bestätigten die Wähler, dass sie an ihn glaubten. Die CDU/CSU erhielt 47,2 Prozent der Stimmen und bildete weiterhin in Koalition mit der FDP die Regierung. Erschreckend jedoch: 2 Prozent der Stimmen gingen an die NPD.
Die NPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands) war ein knappes Jahr vorher gebildet worden - noch keine zwanzig Jahre nach dem Krieg gab es wieder eine rechtsextreme, neonazistische Partei. Gleichzeitig wuchs die Anzahl der Gastarbeiter. Ein Monat vor der Gründung der NPD kam der millionste Gastarbeiter nach Deutschland. Es war dies ein Portugiese, der Tischler Armando Rodrigues de Sá. Er erhielt von den deutschen Arbeitgeberverbänden ein Moped der Marke Zündapp-Mokick (im Bild links) als Ehrengeschenk. 1970 kehrte er nach einem Arbeitsunfall nach Portugal zurück. Ein Magentumor kostete ihn dort seine gesamten Ersparnisse, weil er nicht wusste, dass er durch seine Arbeit und seine Krankenversicherung in Deutschland auch ein Anrecht auf Krankengeld hatte. Er starb 1979 im Alter von 53 Jahren. Soviel zu dem Märchen, dass Ausländer generell den Staat ausnützen. (Natürlich gibt es auch solche, sowie es solche unter den Eingeborenen eines Staates gibt.)
Bis 1973 waren es 2,6 Millionen Gastarbeiter geworden. Im November dieses Jahres beschloss man einen Anwerbestop. Ein Teil der Gastarbeiter entschied sich dafür, in Deutschland zu bleiben. Logischerweise wollten sie wieder mit ihren Familien vereint sein, was seinerseits die Ausländerquote kaum schmälerte.
Ludwig Erhard versuchte eine Konsensregierung zu führen, auf Zusammenarbeit und Vernunft zu bauen. Dass diese beiden Begriffe in völligem Gegensatz zu Politik stehen, musste er bald einsehen, als das Ruhrgebiet in der Krise versank. Seit 1958 wurde die Steinkohle nämlich immer bedeutungsloser, weil sie von Erdöl und Gas als Energielieferant verdrängt wurde. Eine Rezession in den Jahren 1965/66 verschärfte die Lage und führte zu Entlassungen und unbezahlten Feierschichten. Erhard, ein Fürsprecher der Marktwirtschaft, die der BRD ja das Wirtschaftswunder besorgt hatte, war gegen staatliche Eingriffe. Da begann die CDU hinter seinem Rücken mit der SPD Verhandlungen über eine große Koalition zu führen. Im November 1966 warf Erhard das Handtuch und trat zurück. Die große Koalition wurde Wirklichkeit - unter der Führung von Kurt Georg Kiesinger (CDU). Dieser war von 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP gewesen ...
In dieser neuen Regierung wurde übrigens auch Franz Josef Strauß rehabilitiert und bekam wieder einen Ministerposten.
Ein Theaterstück, das Aufsehen und Debatte erweckte, war "Der Stellvertreter" von Rolf Hochmuth. Es behandelte das Schweigen der katholischen Kirche - und nicht zuletzt dessen Oberhaupt - zu den Judenverfolgungen im Zweiten Weltkrieg. Das Stück war auch insofern interessant, weil es gleichzeitig in der BRD und der DDR aufgeführt wurde. Szenen daraus sind im Bild links zu sehen.
In der DDR folgte nach dem Mauerbau ein kulturpolitisches Tauwetter. Die "Republikflucht" schien unterbunden zu sein, man sprach von der "Ankunft in der entwickelten, sozialistischen Gesellschaft". Die junge Generation der Kulturträger, die großteils schon in der DDR aufgewachsen war, befasste sich zum Teil mit gut integrierten Bürgern im neuen Staat. Jedoch sogar gesellschaftskritische Themen wurden eine Zeit lang toleriert. Es bestand die Hoffnung, die Probleme des Alltags in einer offenen Diskussion ansprechen und lösen zu können.
1964 konnte man internationale, moderne Musik im Radio der DDR hören, also auch zum Beispiel die Beatles.
Die SED aber fühlte sich schnell auf die Zehen getreten und verschärfte die Kulturpolitik wieder. Schon ein Jahr später meinte Walter Ulbricht, dass es doch nicht nötig war, sich die "Monotonie des Je-Je-Je" anhören zu müssen.
Als Beispiel der Verfolgung mag Robert Havemann, überzeugter Marxist und schon seit 1946 Mitglied der SED, dienen. Er unterrichtete auf der Universität und wagte es, in einer Vortragsreihe das System der DDR zu kritisieren. Es folgten Parteiausschluss und Berufsverbot.
Im Westen beschritt die Kultur neue Wege, die nicht immer jedermanns Sache waren. Die "Kunst" wollte provozieren, aber inwiefern die "Reste eines Abendessens" als Kunst deklariert werden dürfen, erregte die Debatte. Das A im Ring, Symbol für Anarchismus, feierte sein Debut durch die Provos. Die Musik wurde aggressiver und vor allen Dingen mehr international. Konventionen wurden von den Jungen verlacht, man fand neue Werte. Die Kernfamilie musste neben sich andere Formen des Zusammenlebens akzeptieren.
Hosen für Frauen wurden mit der Zeit ebenso häufig gesehen, wie lange Haare der Männer. Das von einer Kriegsgeneration Eltern gut gemeinte: "die Kinder sollen es besser haben als wir" führte zu einer antiautoritären Erziehung, die aber oft gleichzeitig versäumte, den Kindern Grenzen aufzuzeigen. Spontaner Lebensgenuss und durch die Pille eine Befreiung der Sexualität, sowie eine Abkehr von Zuverlässigkeit und Fleiß wurden die neuen Werte der jungen Generation. Die Flower-Power Bewegung und die Hippies sahen das Licht der Welt.
Das Fernsehen trug ebenfalls dazu bei, die Gesellschaft zu verändern. Innerhalb von zehn Jahren hatte sich der Besitz eines Fernsehers versiebzigfacht, von 100000 Geräten auf sieben Millionen. Die Tagesschau um 20 Uhr war plötzlich ein fester Punkt im Tagesablauf geworden. Sportübertragungen sammelten Männer, die noch keinen Fernseher besaßen, im Café oder beim Nachbarn. Die Welt kroch ins Wohnzimmer. Der Vietnamkrieg der Amerikaner war jetzt in all seiner Brutalität in den Nachrichten zu sehen. Das ging viel mehr unter die Haut, man musste sich plötzlich damit auseinandersetzen.
Napalm war ein neues Wort, das man lernen musste, sowie den "Agent Orange", ein hochgiftiges Entlaubungsmittel, dem Millionen Vietnamesen ausgesetzt wurden. Kein Wunder, dass vor allem unter den Jugendlichen und da hauptsächlich unter Studenten die Proteste gegen diesen Krieg hohe Wellen schlugen. Es gab auch neue Formen der Protestbewegung, wie Sitzstreiks, Demonstrationsketten, Happenings - auch die Gewalt eskalierte. Nicht alle hatten Verständnis dafür, vor allen Dingen nicht die älteren Generationen, die die USA noch als Befreiermacht "verehrten". Auch in Berlin demonstrierte man *für* die USA, als Garant für die "Freiheit".
Andererseits stieg in China mit Mao Tse-Tung ein neuer Stern auf, der viele Anhänger fand. Die "Worte des Vorsitzenden Mao", im Alltag auch "Rote Bibel" genannt, verkauften sich nahezu von selbst. Die Kulturrevolution in allen Ehren, aber man vergaß, dass auch im "neuen" China Andersdenkende mit Gewalt und Terror unterdrückt wurden.
Es gab auch andere Neuerungen, zum Beispiel im Bauwesen. Jetzt entstanden viele "Monumentalwohnungsbauten", die zwar für ihre Zeit hohen Standard hatten und vielen Menschen Platz boten, gleichzeitig aber die Bewohner anonymisierte.
Auch was die Bildung betrifft, kamen Reformen. Wer erinnert sich nicht an die Mengenlehre der Mathematik, der man entweder selbst oder als Elternteil ausgeliefert war. Die Gesamtschule wurde geboren und den konfessionellen Schulen kam dadurch viel weniger Einfluss zu.
Ein Sprachlabor für besseren Sprachenunterricht und Sexualerziehung in der Schule waren weitere "Errungenschaften" dieser Epoche. An den Hochschulen nahmen die Studentenproteste zu. Sie richteten sich nur teilweise gegen veraltete Unterrichtsformen. Ein weitaus größerer Teil hatte politischen Anstrich als "Außerparlamentarische Opposition".
Allen voran muss Rudi Dutschke erwähnt werden, der einer der aktivsten Organisatoren der Studentenbewegung war. Gleichzeitig verursachte er durch sein unpoliertes Benehmen bei vielen Menschen Ablehnung. Im April 1968 wurde er von einem rechtsradikalen Hilfsarbeiter, Josef Bachmann, lebensgefährlich angeschossen.
Um der eskalierenden Gewalt beizukommen, wurden immer öfter Wasserwerfer (Bild links) eingesetzt.
In unserem digitalen Zeitalter mutet diese Matrizenabzugsmaschine steinzeitlich an, dennoch ist es erst knappe fünfzig Jahre her, als dies die einzige Möglichkeit war, eine billige Vervielfältigung, zum Beispiel Flugblätter, zu produzieren. Die Maschine im Bild stammt aus einem Studentenbüro der Universität Freiburg im Breisgau.
In der Wissenschaft wurden große Fortschritte gemacht. Die Antibabypille wurde erfunden und damit die Geburtenkontrolle möglich. In der BRD wurde sie zunächst nur an verheiratete Frauen unter Zustimmung ihres Gatten verschrieben. In der DDR war sie seit 1965 gratis erhältlich.
Gleichzeitig erschütterten die Folgen des Contergan-Skandals die Welt, diesem Beruhigungsmittel, das, während einer gewissen Zeit der Schwangerschaft eingenommen, zu Fehlbildungen an Gliedmaßen und Organen der Embryos führte.
Die "absolut sicheren" Kernkraftwerke wurden immer mehr - trotz wachsender, starker Zweifel in der Bevölkerung. In Südafrika gelang Christiaan Barnard die erste Herzverpflanzung. Sein Patient überlebte die Operation achtzehn Tage lang, sein zweiter Patient neunzehn Monate. Menschenopfer - für das Wohl der Menschheit?
Am 21. Juli 1969 betrat zum ersten Mal ein Mensch außerirdisches Territorium. "The eagle has landed" - auf dem Mond. Die folgenden Worte von Neil Armstrong, als er von der Landefähre aus die Mondoberfläche betrat, bleiben wohl bei allen in Erinnerung, die diese Szene gesehen haben: "Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer für die Menschheit."
Leider war diese Menschheit allzusehr mit dem kalten Krieg beschäftigt, um wissenschaftlichen Erfolg wirklich gemeinsam zu feiern. Wettrennen im All und Wettrüsten waren die Parolen, die in der Realität zwischen Ost und West galten.
Im Haus der Geschichte gibt es zu jeder Bundestagswahl eine Tafel mit dem respektiven Wahlergebnis. Die Wahl 1969 brachte eine Wende in der bundesdeutschen Politik. Die CDU/CSU blieb wohl die stärkste Partei, aber die FDP entschloss sich, mit der SPD zusammenzuarbeiten. Gemeinsam hatte man 0,4 Prozent Übergewicht an Stimmen, was im Bundestag zu einer Mehrheit von 12 Sitzen führte. Willy Brandt wurde Kanzler - und damit begann auch eine völlig neuorientierte Ostpolitik.
Die sogenannten Ostverträge wurden ausgehandelt, die eine bundesdeutsche Akzeptanz der gegenwärtigen Lage beinhalteten. Sie standen jedoch unter heftiger Kritik seitens einem Teil der Bevölkerung, wie auch der Kniefall Willy Brandts in Polen, am Ehrenmal der Helden des Ghettos. Die CDU/CSU scheute sich nicht davor, ein Misstrauensvotum gegen Willy Brandt einzubringen, das jedoch scheiterte.
Auch im Osten wurde man durch die offenere Haltung mehr bereit zu Verhandlungen. Eine ganze Reihe Erleichterungen wurden geschaffen, wie zum Beispiel das Transitabkommen von und nach Westberlin, das nunmehr auch auf dem Landweg erreicht werden konnte. Auch eine "ständige Vertretung" (statt einer Botschaft) wurde gegenseitig eingerichtet.
Das Wappen im Bild oben wurde an der DDR-Vertretung in Bonn angebracht.
Innenpolitisch führte die Regierung Brandt viele soziale Reformen durch. Die Volljährigkeit wurde auf 18 Jahre gesenkt, das BAföG sollte auch ärmeren Kindern eine bessere Chance auf Bildung sichern, die "flexible Altersgrenze" ermöglichte Frührenten, Homosexualität war nicht mehr strafbar und die Betriebsräte in Firmen bekamen stärkeren Einfluss.
Die Welt honorierte Brandts politische Einsätze und verlieh ihm den Nobelpreis. Anders reagierten einige Abgeordnete des Bundestags. Sie wechselten zur Opposition und Brandt verlor die Mehrheit. Die von ihm gestellte Vertrauensfrage musste er daher auch verlieren und der Weg zu Neuwahlen war damit frei. Die Bevölkerung stellte sich aber hinter die Koalition und die SPD wurde zum ersten Mal stärkste Partei in der BRD.
Auch in der DDR geschahen Veränderungen. Ulbricht wurde abgesetzt, auch wenn man ihn "von sich aus"abtreten ließ. Erich Honecker wurde nach ihm SED-Chef. Sein Programm versprach einen "Konsumsozialismus", um den Lebensstandard in der DDR zu erhöhen. Ehrentitel, Abzeichen, Orden und sogar Geldprämien wurden in immer höherem Grad verliehen, um die Produktion zu steigern. Anfangs geschah wirklich eine Verbesserung und die Wirtschaft wuchs. Aber die Produktionsmittel waren zu rückständig, um einen langfristigen Erfolg zu ermöglichen. Außerdem war es schon damals so, dass man sich für Abzeichen und Orden nichts kaufen konnte.
Und letztendlich konnte man nicht einmal für Geld etwas kaufen, weil nicht genügend Waren produziert wurden.
1972 kamen die Olympischen Sommerspiele nach München. Es sollten heitere Spiele werden; man wollte die internationale Erinnerung an Berlin 1936 verbessern. Zum ersten Mal traten die Mannschaften der BRD und der DDR nicht mehr gemeinsam, sondern unter eigenen Fahnen und Hymnen an. Die DDR erreichte auf Anhieb einen dritten Platz in der Medaillenwertung und zeigte der Welt, dass man in sportlicher Hinsicht eine Großmacht war. Aber noch bevor die Spiele beendet waren, wurden sie durch ein Terroristattentat überschattet. Eine Gruppe Palästinier überfiel das olympische Dorf und nahm elf israelische Sportler als Geiseln. Man verlangte die Freigabe von über 200 gefangener Palästinier in Israel, samt von Andreas Baader und Ulrike Meinhof, sowie einem japanischen Terroristen. Israel weigerte sich unmittelbar, den Forderungen nachzugeben.
Im Laufe der Verhandlungen des Tages ging die deutsche Regierung scheinbar darauf ein, die Terroristen samt den neun noch lebenden Geiseln nach Kairo zu fliegen. Man wollte die Palästinier am Flugfeld angreifen. Aber die Aktion ging völlig daneben. Fünf gewöhnliche Polizeibeamte waren zu "Scharfschützen" umfunktioniert worden und sollten die Terroristen erschießen, wenn sie zum Flugzeug gingen. Im Flugzeug selbst waren weitere Polizisten, als Besatzung verkleidet und nur mit ihren Dienstpistolen bewaffnet. Diese ergriffen die Flucht, als die Terroristen ankamen. Weitere organisatorische Fehler führten dazu, dass es auf dem Flugplatz zu einer nahezu zweistündigen Schießerei kam, gegen deren Ende die Terroristen auch die Geiseln erschossen, als sie ihre Ausweglosigkeit erkannten. Fazit: alle elf Geiseln, ein Polizist und fünf der acht Terroristen wurden getötet.

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås 2014


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