Die Kathedrale von Amiens


Die Straßen zur Kathedrale führen nicht genau auf sie zu, sondern seitlich an ihr vorbei. Das bedeutet, dass man, folgt man einer Straße, zuerst den linken oder den rechten Turm sieht und dann immer mehr von der Westfront der Kirche. Aber erst wenn man am letzten Haus vobeigeht und auf den Platz vor der Kirche, den Place Notre-Dame tritt, hat man die ganze Eingangsseite der Kirche vor Augen. Es ist ein mächtiger Eindruck, auch ohne auf die Details zu achten. Beim zweiten Anblick bleibt das Auge an dem großen Rosettenfenster und den tief hineinversetzten Portalen hängen. Es sind drei Portale, je einem Kirchenschiff entsprechend. Der Haupteingang wird nur für bedeutende Persönlichkeiten geöffnet, das Volk muss mit dem linken Eingang vorlieb nehmen (ganz dem Dogma entsprechend, dass alle Menschen gleich sind ...). Dieser linke Eingang ist St. Firmin zugeordnet, der im dritten Jahrhundert der erste Bischof von Amiens war.
Aber bevor wir die Kirche betreten, wollen wir uns vor allem das Hauptportal näher ansehen.
Werfen Sie aber zunächst einen Blick hinauf, zu dem großen Rosettenfenster, das, ganz französischer Gotik entsprechend, einer großen Blume gleichend, die Westfront der Kirche verschönert. Es wurde im 16. Jahrhundert erneuert und trägt in der Mitte das Wappen des Donators, drei Hähne.
Die Statuenreihe darunter wurde im 19. Jahrhundert restauriert, sehr zur Missbilligung der lokalen Bevölkerung, die dem Architekten vorwarf, die Köpfe von Bischöfen auf die Körper von Lehrern gesetzt zu haben und Ähnliches.
Aber nun zum großen Portal, das auch das Portal des Jüngsten Gerichts genannt wird. Das kommt vom Tympanon (das Halboval direkt über den beiden Toren), das in der untersten Reihe die Auferstehung zeigt, in der Mitte Christus als Richter am Jüngsten Tag und ganz oben das Versprechen der Wiederkunft vom Sohn Gottes. Wir sehen hier aber auch, wie die (damalige) Gegenwart die Kunst beeinflusst. Der Erste, der das Himmelreich betreten darf, ist Franz von Assisi, der nur ein paar Jahre vor dem Bau heilig gesprochen wurde.
Unter dem Tympanon befindet sich noch die Oberschwelle, die die Teilung von Gut und Böse darstellt. Die Halbbögen davor sind ebenfalls mit einer Unzahl von Statuen gefüllt. Sie zeigen Engel, Märtyrer, Jungfrauen, Patriarchen und andere. In der Reihe der stehenden Statuen finden wir auf jeder Seite zunächst sechs Apostel, während die beiden äußeren große Propheten darstellen. In den Reihen unter diesen Statuen finden wir Symbole für die Tugenden in der oberen Reihe, während die Todsünden darunter symbolisiert wurden.
Man muss nicht gläubig sein, um an diesen steinernen Erzählungen Gefallen zu finden ...
Die beiden Seitenportale sind etwas kleiner, haben denselben Aufbau, aber natürlich mit anderen Geschichten. Wo im Hauptportal die Apostel stehen, gibt es an der gleichen Stelle Figuren aus dem Alten Tesament, beziehungsweise Bischöfe - und so fort. Das rechte Seitentor wird "Portal der Muttergottes" genannt und hat Maria als Hauptperson.
Das linke, bei dem die Besucher ein- und ausgehen, ist dem Heiligen Firmin, dem Märtyrer, zugeordnet. Und obwohl es noch viel über die Hauptfront zu erzählen gäbe, gehen wir jetzt in das Innere der Kirche hinein.
Wenn ich eine Kirche betrete, stelle ich mich immer zuerst ganz hinten im Hauptschiff hin, und versuche so, einen ersten Eindruck zu bekommen. Glauben Sie mir, hier ist dieser überwältigend. Die großen Bögen zu den Seitenschiffen sind ganze achtzehn Meter hoch, aber das ist nicht einmal die Hälfte bis hinauf zum Kreuzrippengewölbe, das sich in gut zweiundvierzig Metern Höhe befindet. In ganz Frankreich ist mit siebenundvierzig Metern nur die Kathedrale in Beauvais höher. Wenn man dann bedenkt, dass das alles schon im 13. Jahrhundert erbaut wurde, ist die Leistung noch viel erstaunlicher.
Die erste Kirche in Amiens soll aber etwa tausend Jahre älter sein, als sie vom Heiligen Firmin gegründet wurde. Das Christentum in dieser Gegend ist allerdings schon vom 4. Jahrhundert an belegt.
Im zwölften Jahrhundert wurde hier eine romanische Kirche erbaut, nachdem ein Feuer die Vorgängerin zerstört hatte. Hier heirateten im Jahr 1193 König Philipp II von Frankreich und Prinzessin Ingeborg von Dänemark. 1206 brachte man aus Konstantinopel eine ganz besondere Reliquie mit, nämlich den Kopf von Johannes dem Täufer. (Ich frage mich bei diesen Reliquien immer, wie die Leute mehr als tausend Jahre später wussten, wessen Totenschädel oder Zeigefinger es wohl war ...) Auch die romanische Kirche fiel 1218 einem Feuer zum Opfer. Zwei Jahre später legte man den Grundstein zur heutigen Kirche, deren Hauptschiff schon 1240 fertiggebaut war.
Natürlich wurden im Lauf der Jahrhunderte diverse Renovierungen nötig, besonders das 16. Jahrhundert machte der Kirche durch Brände und Stürme zu schaffen. Im 18. Jahrhundert wurde ein neuer Altar eingebaut und ein Jahrhundert später musste man die Schäden beseitigen, die die Französische Revolution verursacht hatte, vor allem an den Statuen.
Folgt man dann dem Mittelgang, findet man etwa in der Mitte der Kirche auf dem Boden das Labyrinth. Es ist leider nicht mehr das Original, denn dieses wurde ebenfalls in der Französischen Revolution stark in Mitleidenschaft gezogen. Das heutige ist aber am Beginn des 19. Jahrhunderts originalgetreu nachgebaut worden. Folgt man den Wegen des Labyrinths, muss man eine Strecke von zweihundertvierzig Metern zurücklegen. Auf Französisch werden die Labyrinthe auch "dedalos" genannt, nach Daidalos, der das erste Labyrinth, den Verwahrungsort des Minotaurus, erbaut hatte.
Ein Labyrinth symbolisiert auch den umständlichen Weg, den man gehen muss, um Erlösung zu finden. Die Labyrinthe sollten es den ärmeren Menschen (also damals fast allen) ermöglichen, einen Bußgang nach Jerusalem zu ersetzen. Ob man dann dem Irrgarten gehend folgte, oder ihn auf den Knien nachrutschte, war wohl örtlich und individuell verschieden.
Beim Querschiff angekommen, wird man wieder von dessen Größe überrascht. Auch dieses besteht aus einem Mittelgang und zwei Seitengängen, deren Länge ganze siebzig Meter beträgt, also mehr als die Hälfte der einhundertdreiunddreißig Meter der Längsachse. Außerdem kann man hier wieder Rosettenfenster bewundern. Das im Bild ist das südliche, das im 16. Jahrhundert eingesetzt wurde.
Im Querschiff findet man etliche Grabmale, aber am interessantesten ist vielleicht ein länglicher, einfacher Stein. Auf ihm wurden die Toten gewaschen. Er stammt aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts und ist also älter als die Kirche selbst.
Der Chor und der Hochaltar sind von einer durchbrochenen Steinwand und einem Ziergitter halb verdeckt (siehe viertes Bild von oben). Beide bilden den zentralen Teil der Apsis. Der Hochaltar ist aus vergoldetem Holz uns stammt aus dem Jahr 1755. Was aber wirklich einzigartig ist, sind die Schnitzwerke im Chorgestühl. Ursprünglich waren es hundertzwanzig Sitze, von denen heute noch hundertzehn erhalten sind. Sie sind in je zwei Reihen übereinander an den Wänden entlang angebracht. In der oberen Reihe saßen die Domherren und sonstige Kanoniker, während den Kaplanen die unteren Sitze zugewiesen wurden. Jeder einzelne Stuhl wurde am Anfang des 16. Jahrhunderts handgeschnitzt. Insgesamt wurden dafür mehr als viertausend Skulpturen geschnitzt, hauptsächlich aus dem Alten und Neuen Testament, aber auch aus apokryphen Texten. Abgesehen von den Figuren, sind die Stühle auch noch mit Ornamenten verziert.
Wenn es über Schnitzereien geht, hat die Kirche aber noch viel mehr zu bieten:
In der Kirche verteilt gibt es vier verschiedene Erzählungen in vier oder acht Bildern, die sämtliche geschnitzt sind. Welch wunderbare Arbeit! Im Bild unten sehen wir die Vertreibung aus dem Tempel in Jerusalem. Die einzelnen Bilder (von links) zeigen, wie Jesus die Geldverleiher im Tempel antrifft und sie im nächsten Bild hinauswirft.  
Im dritten Bild wird das Brot für Israels zwölf Stämme gezeigt, das auf dem Tisch liegt. Im letzten Bild sieht man, wie der Hohepriester die Bundeslade beweihräuchert.
Das Bild rechts oben ist aus der Serie über Johannes den Täufer und zeigt, wie man den Kopf von Johannes Herodias, der Schwägerin von Herodes, auf einem Tablett bringt. Außer diesen beiden Serien gibt es noch die Lebensgeschichte des Heiligen Firmin, beziehungsweise des Heiligen Jakob.
In der Apsis befindet sich ein Rundgang, hinter dem Chor herum, wo wir noch eine Attraktion der Kirche finden. Auf dem Grabmal von Guilain Lucas, der 1628 verstarb, hat Nicolas Blasset die Figur des "Weinenden Engels" erschaffen. Eigentlich ist dieser nicht besonders hervorragend - seine Berühmtheit verdankt er wohl eher seinem Zustandekommen. Die Familie des hier begrabenen Herrn Lucas hatte bei dem Bildhauer ein Grabmonument bestellt. Man fand dieses wohl in Ordnung, aber den Preis dafür zu hoch und verklagte deshalb Nicolas Blasset. Blasset erbot sich, als Geschenk den weinenden Engel hinzuzufügen und damit endete der Streit.
Auf der Außenseite des Rundgangs befinden sich sieben Kapellen, deren größte, die mittlere, die als Verlängerung des Hauptschiffes gesehen werden kann, der Gottesmutter als Beschützerin der Tuchhändler gewidmet ist. Die erste Kapelle an der Südseite, war früher dem heiligen Eligius geweiht, beherbergt heute aber den Kirchenschatz. Von diesem ist besonders der Reliquienschrein des Heiligen Firmin zu erwähnen, aus getriebenem Silber, der aus dem 13. Jahrhundert stammt. Die anderen Kapellen sind unter anderen Franz von Assisi, der Heiligen Theodosia und Johannes dem Täufer gewidmet.
In der Kapelle des Franz von Assisi sind auch die ältesten bemalten Glasfenster eingesetzt, die noch erhalten sind. Sie stammen aus dem 13. Jahrhundert. Im Mittelalter wurden diese Fenster von reichen Familien oder von Zünften gespendet. Allerdings sind die meisten Originalfenster schon zerstört worden, sei es durch die Wut der Hugenotten im 16. Jahrhundert, durch Orkane 1627 und 1705 oder auch bei Restaurierungsarbeiten. Zwei der ältesten Fenster, von 1250, fielen erst 1920 zum Opfer.
Man hatte sie im Ersten Weltkrieg abmontiert, um sie zu schützen, und man verwahrte sie in der Werkstatt des Malers und Glasmeisters Edmond Soccard. Leider brach dort 1920 ein Brand aus und die Fenster waren nicht mehr zu retten.
In einem der Arkadenbögen zwischen Haupt- und Seitenschiff gibt es auf jeder Seite ein Grabmal. Es ist jeweils ein aus einem Block gegossenes Kupferabbild eines Bischofs. Evrard de Fouilloy legte 1222 den Grundstein zur heutigen Kirche und Geoffroy d'Eu (im Bild links) war sein Nachfolger, der den Kirchenbau bis 1236 vorantrieb.
Die beiden Seitenschiffe werden mit je einem einfachen Altar abgeschlossen, bei dem das Altarbild aus einem Heiligenstandbild besteht.
Die Kanzel, im 18. Jahrhundert enstanden, ist ein Blickfang im Hauptschiff. Sie besteht aus Marmor und vergoldetem Holz und wird von drei weiblichen Figuren getragen, die die drei christlichen Tugenden - Glaube, Hoffnung und Liebe - symbolisieren sollen. Der lateinische Text nennt die Liebe "caritas", was wohl besser als Nächstenliebe ausgedrückt werden sollte. Der über dem Schalldeckel stehende Engel hält eine Tafel mit lateinischer Inschrift: "Hoc fac et vives", was in etwa bedeutet: "Tu das und du wirst leben". Gespendet wurde die Kanzel von einem Bischof in Amiens, Monseigneur de la Motte.
Die Orgel wurde ursprünglich 1429 eingebaut, ist seither aber natürlich mehrmals umgebaut und verändert worden. Heute besitzt sie 57 Register auf drei Manualen und einem Pedal. Die Kirche verfügt auch über neun Glocken, wovon drei dem Uhrschlag dienen.
Sie stammen aus dem 16. Jahrhundert. Vier kleinere Glocken bilden ein einheitliches Geläut. All diese hängen im Südturm. Im Nordturm sind die beiden großen Glocken, Marie und Firmine-Mathilde, untergebracht.
Wir verlassen die Kirche jetzt, aber wir gehen an der Außenseite zum Südportal, das früher als Eingang für die Geistlichen diente. Auch dieses Portal ist reich verziert und stammt aus der Zeit um 1245. Ursprünglich wurde es "Portal der goldenen Jungfrau" genannt, nach einem vergoldeten Standbild Marias, das hier stand. Heute steht dieses im südlichen Querschiff im Inneren der Kirche. Im Tympanon wird vom Leben des Heiligen Honorius erzählt, der schon Ende des sechsten Jahrhunderts Bischof in Amiens war. In der reichen Ausschmückung des Tores sind wieder Apostel, Engel, Propheten und andere Personen des Alten Testaments dargestellt.


© Bernhard Kauntz, Wolvertem, Belgien 2012



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