SAGENHAFTES WIENDas BasiliskenhausMan schrieb das Jahr 1212. Vor zwei Tagen, am 10. Juni, war Anna 16 Jahre alt geworden. Das blonde Mädchen schlenkerte mit dem Wasserkübel in der Hand, als sie im Morgengrauen in den Hof trat. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber beim Bäcker Garhibl wurde schon emsig gearbeitet, um den Bürgern der Stadt Wien frisches Frühstücksbrot zu backen. Das Schlenkern mit dem Kübel kam von der fröhlichen Erinnerung an das Fest, das der Meister vorgestern veranstaltet hatte. Er war ein glühender Anhänger des jungen Staufers Friedrich II, den der Papst nun zum römisch-deutschen Kaiser ernannt hatte - das war Grund genug, um zu feiern. Das Fest war also gar nicht für sie gewesen, es hatte mit ihrem Geburtstag gar nichts zu tun gehabt, aber es war so schön zusammengefallen. Und dass Johann ihr zum Geburtstag eine selbst geschnitzte, bemalte Rose geschenkt hatte, verhinderte das Kübelschlenkern auch nicht. Anna wäre gern aus lauter Freude die letzten Schritte bis zum Ziehbrunnen in der Mitte des Hofes gehüpft, aber der Gedanke an ihr ehrenwertes Alter hieß sie, sich im Zaum zu halten. Sie befestigte den Kübel an der eisernen Kette und ließ ihn dann in den Brunnen hinunter. Beim Heraufziehen kam es ihr zwar vor, dass es heute viel leichter ging als sonst, aber sie schob das auf die gute Stimmung, in der sie sich befand. Erst als der Kübel wieder den Brunnenrand erreicht hatte, merkte sie, dass kaum Wasser drinnen war. Verdutzt beugte sie sich vor, um in den Schacht hineinzusehen. Erst sah sie gar nichts, weil es da unten so dunkel war, dann aber vermeinte sie, etwas funkeln zu sehen, ein Augenpaar vielleicht? Und dann nahm ihr der Gestank den Atem. Sie wollte schreien, bekam aber keine Luft. Erst als sie neben dem Brunnen zusammengesunken war und frische Luft einatmen konnte, funktionierten ihre Lungen wieder. Und Anna schrie. Sie schie im wahrsten Sinne des Wortes das ganze Haus zusammen. Alle kamen in den Hof gelaufen, rechts im Fünferhaus und im Neunerhaus auf der anderen Seite gingen die Fenster auf, ja es kamen sogar Leute von der Straße durch das Haustor herein. Alle fragten gleichzeitig und durcheinander, was denn los sei, ob ihr etwas geschehen wäre und warum sie so schreie. All diese Fragen machten es Anna noch schwerer, sich zu beherrschen. Es dauerte eine ganze Weile, bevor sie weinend, stockend und schluchzend ihre Geschichte erzählen konnte. Daraufhin meinte Johann, ihr Johann, einer der Gesellen des Meisters, dass er wohl in den Brunnen hinabsteigen müsse, um zu sehen, was da unten wirklich vor sich ging. Johann war ein unerschrockener, kräftiger Bursche mit roten Haaren, der sich wohl auch mit dem Teufel angelegt hätte, wenn er damit seiner Anna zeigen konnte, dass ihm ihr Wohl nicht gleichgültig war. Es gab aber auch warnende Stimmen, die meinten, es könne gefährlich sein, in den Schacht zu klettern. Johann schlug die Einwände weg, ließ sich aber wenigstens ein Seil um die Mitte binden, für alle Fälle... Meister Garhibl und Georg, einer der anderen Gesellen und Johanns bester Freund, hielten das Seil, während Johann begann, an den Steigeisen im Brunnenschacht in die Tiefe zu klettern. "Pfui, da stinkt's wirklich", hörte man ihn sagen, als sein Kopf verschwunden war. Dann vergingen ein paar lange Sekunden, bevor man einen abgebrochenen Schrei hörte, dem ein Gurgeln folgte - und plötzlich spannte sich das Seil, an dem der Bäckerbursche festgebunden war. Schnell zogen hilfreiche Hände den mutigen Burschen wieder ans Tageslicht, denn inzwischen war schon die Sonne aufgegangen. Johann aber blieb röchelnd und bewusstlos neben dem Brunnen liegen. Inzwischen hatte einer der Zaungäste nach einem Doktor und nach dem Stadtrichter Jakob von der Hülden geschickt. Die beiden kamen gerade rechtzeitig, als Johann wieder die Augen aufschlug. Deutlich entsetzt berichtete er von einem Ungeheuer, das er im Schein seiner Fackel unten im Brunnen gesehen hatte. "Das war weder Vogel noch Fisch", erklärte der Bursche, bleich und dazwischen immer wieder hustend. "Es hätte ein Hahn sein können, aber seine Flügel waren groß, wie die eines Drachen. Auch der Schnabel hätte besser zu einem Adler gepasst. Am merkwürdigsten aber waren sein Eidechsenschwanz und die kurzen, krallenbewehrten Füße." Ein neuer Hustenanfall machte, dass Johann einhalten musste. Die Umstehenden sahen einander unsicher und erschrocken an. Was konnte das für Untier sein, das sich da im Brunnen verkrochen hatte? Das Tuscheln und Flüstern unter den Leuten verstummte sofort, als Johann wieder zu sprechen begann: "Der Gestank war fürchterlich. Aber das Schlimmste waren die Augen. Als das Vieh den Kopf hob und mich mit einem stechenden Blick feurig-funkelnd ansah, da wurde mir ganz komisch. Ich glaube, dass ich da ohnmächtig wurde." Kaum hatte der Bäckergeselle fertiggesprochen, fiel er erneut in Bewusstlosigkeit. Zwei seiner Kollegen schleppten ihn nun ins Haus, auf die Stube der Gesellen, damit er sich dort besser erholen könne. Im Hof aber hatte der studierte und gebildete Doktor Pollitzer das Wort ergriffen. Es handle sich ohne Zweifel um einen Basilisken, der im Brunnen sein Unwesen treibe, erklärte er. Er habe viel von solch schrecklichen Tieren im Orient gehört. Den Basilisken könne man töten, wenn man ihm einen Spiegel aus glänzendem Metall vor die Augen hielt. Das Tier würde ob seiner Hässlichkeit so erschrecken, dass es tot umfalle. Nun gut, Metallspiegel ließen sich heranschaffen - wer aber hatte den Mut, in den Brunnen zu steigen, um einen Versuch zu wagen? Es fand sich niemand. Daher fragte man den Doktor, ob es denn keine andere Art gäbe, dem Basilisken ans Leben zu rücken? "Das geht schon", antwortete der Doktor. "Wenn man den Brunnen ganz mit Steinen und Erde zuschüttet, dann muss der Basilisk ersticken." Meister Garhibl brauchte nicht lange überlegen, bevor er dem Vorschlag zustimmte, obwohl es ihn seinen Brunnen kostete. Alsbald schleppten alle große Steine heran und karrten Erde herbei, um den Brunnen zu füllen. Damit hatte man dem Leben des Basilisken ein Ende bereitet, aber auch das Leben des tapferen Gesellen Johann ging nicht zu retten. Er verstarb am Abend desselben Tages.
Das ist eine sehr interessante Sage, weil es belegt ist, dass im Haus Nummer 7, in der heutigen Schönlaterngasse, im ersten Bezirk, in dem der Bäckermeister Garhibl wohnte und arbeitete, ein besonderes Ereignis stattfand. Auch die Nennung des Namens von Stadtrichter Jakob von der Hülben gibt zu denken, denn auch der ist belegbar. Dass eine junge Magd voller Phantasie, die sich über den Brunnenrand beugt, und ein zwar mutiger, aber doch sicher verängstigter Geselle im Fackelschein ein Fabelwesen zu sehen glaubten, scheint nicht unmöglich. Die Frage, die jedoch niemand - auch nicht in weiteren 800 Jahren - beantworten können wird, lautet aber: Was ist in diesem Brunnen wirklich vorgefallen?
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