DAS VERLORENE PARADIES

GARTENFEST


Wir spielten gerade den Sketch von den vier Temperamenten und wir würden bald an die Stelle kommen, an der der Choleriker dem Ober die Erbsensuppe ins Gesicht schüttet. Fasziniert sahen wir zu Hinke und Gerhard hinüber, denn zur Feier des Tages verwendeten wir richtige Erbsensuppe. Aber es waren ja nur ein paar Tropfen und Hinke hatte bei den Proben gelernt, die Serviette schützend hochzuhalten.
Egon stieß mich erwartungsvoll in den Rücken, neben mir in den Büschen kauernd, die den Eingang zu unserer Szene bildeten. Gerhard löffelte noch immer die Suppe, aber jetzt! Jetzt hatte er das Haar entdeckt. Mit ein wenig Anstrengung preßte er Blut in seine Wangen.
"Herr Ober!"
Hinke kam, die Serviette über den Arm gelegt, zu dem Holztischchen und verbeugte sich.
"Bitte sehr, mein Herr?"
"Da ist ein Haar in der Suppe", schrie Gerhard empört, Daumen und Zeigefinger demonstrativ hochhaltend. "Das soll ein Gasthaus sein? Diese Suppe können Sie selbst essen!" Wutschnaubend ergriff Gerhard den Teller.
Ich blickte gebannt auf die beiden Akteure und hörte kaum, daß Egon neben mir kicherte als Hinke danebengriff und die Serviette zur Erde fiel. Verwirrt beugte sich Hinke zu Boden, um das rettende Tuch noch als Abwehr verwenden zu können, doch damit verschlimmerte er die Situation entscheidend. Schwungvoll ergoß sich die Erbsensuppe über Hinkes Rücken hinweg, gerade auf Frau Bauers geblumte Bluse, wo sie, hinablaufend, zwischen den roten und gelben Blüten das dazugehörende Blattwerk bildete.
Egon verschluckte sich und in der folgenden Stille begann er kräftig zu husten. Gerhards cholerisch rotgefärbtes Gesicht wurde noch röter, doch jetzt vor Angst und Verlegenheit. Das Schweigen schien endlos anzudauern, doch endlich begann jemand zu applaudieren. Damit war der Bann gebrochen, und als sie mit Hilfe von Hinkes Serviette ihre Bluse gesäubert hatte, klatschte sogar Frau Bauer mit.
Dadurch waren sowohl der Abend als auch unsere Vorstellung gerettet, daher getrauten wir anderen uns aus den Büschen hervorzutreten, um ebenfalls der Akklamation teilhaftig zu werden, und schließlich um unsere Vorführung mit einem Lied abzurunden. Damit hatte das Gartenfest erst richtig begonnen.

Seit Jahren war es Tradition, daß die Kinder des Gartenvereins das Fest mit einer kleinen Darbietung eröffneten. Die Kleinen sagten nur kurze Gedichte auf, dabei mehr oder weniger steckenbleibend, wobei aus den umliegenden Büschen eifrige Suffleurdienste geleistet wurden, während wir Älteren mit mehr avancierten Beiträgen aufwarteten. Nun - aber für heute war es vorüber, jetzt konnte der Spaß beginnen.
Gartenfest - allein der Name hatte einen zauberischen Klang. Er bedeutete Harmonikamusik, leuchtende Lampions, heiße Würstchen, Ausgelassenheit, Tombola und Gesellschaftsspiele.
Aber er bedeutete auch laue Sommernacht, sternenbesäten, unendlichen Himmel, geheimnisvoll-romantische Dunkelheit auf den Wegen zwischen den Gärten. Und seit diesem Jahr sollte er für mich auch ein neues Gefühl bedeuten - ein nicht verständliches Suchen, ein undefinierbares Verlangen, Sehnsucht.

Ich war nach dem mißlungenen Ende unserer Vorstellung zum Tisch meiner Eltern gegangen, hatte mit Appetit meine Würstchen und die dicke Schnitte Brot verzehrt, und hatte erstmals statt der dazugehörenden Limonade ein Glas mit Wasser verdünnten Wein vor mir stehen.
Während der Sekretär des Vorstands nochmals die Beschlüsse der vorangegangenen Jahresversammlung vorlas, was mich weiters nicht so sehr interessierte, ließ ich die Eindrücke rings um mich auf mich zukommen, absorbierte sie mit offenen Sinnen.
Schräg vor uns stand die alte Bretterhütte, in der der Vorstand seine Versammlungen abhielt. Zusammen mit der heutigen Aufgabe, als Ausschank zu dienen, war das der einzige Zweck des Hauses, das schon grobe Zeichen von Verfall trug. Das rotbraun gestrichene Holz zeigte schwarze Ränder an den Stellen an denen die Dachrinne schadhaft war und daher das Regenwasser an unbeabsichtigten Stellen an der Hüttenwand herablaufen ließ. Nur die einst weißen, vom Zahn der Zeit aber ebenfalls benagten Buchstaben an der Stirnseite, über der Eingangstür, besagten noch immer mit stolzem Schwung: Vereinshaus.
Rechts davon, wo das Viereck gestampfter Erde als Tanzfläche verwendet wurde, hatte sich schon das Orchester eingefunden. Wie immer spielte Herr Hitzinger auf seiner Ziehharmonika und Herr Schwarz abwechselnd Maultrommel und Gitarre. Das dritte Mitglied der Unterhaltungsmannschaft kam aus dem Dorf, auch er war beim Gartenfest schon Tradition geworden, gehörte dazu, aber ich wußte nicht, wie er hieß.
Sonst bestand der Vereinsgarten eigentlich nur aus Wiese. Die Ribiselsträucher, die den Garten umzäunten, und die zwei Obstbäume, je ein Marillen- und Zwetschkenbaum, waren Allgemeingut. Aber das war relativ. Denn bevor das Obst noch richtig reifen konnte, hatten wir Kinder schon von diesem Allgemeinrecht Gebrauch gemacht, und nur an den äußersten, höchsten Zweigen hingen im Herbst noch ein paar Früchte. Es war ja beileibe nicht so, daß wir Mangel an Obst hatten, denn jeder hatte in seinem eigenen Garten mehr als genug davon. Aber die Trauben in Nachbars Garten waren seit jeher süßer und das Gras grüner gewesen....
Auf der Wiese standen jetzt bunt zusammengewürfelt Tische, Bänke, Stühle, die wir Kinder im Laufe des Tages aus allen Teilen der Anlage zusammengetragen hatten. Über den Tischen waren all die herrlich leuchtenden Lampions an Drähte geknüpft, und, aus einer Batterie gespeist, machten sie dem hellen Silbermond ernste Konkurrenz. Fast störte der zuckende Schein der zwei Petroleumlampen, der gelblich durch die Fenster des Vereinshauses drang, doch war dies unerläßlich - wie hätte man sonst die Viertellitergläser mit Wein füllen, oder die Würstchen aus dem großen Topf fischen können?

Egons Vater war heute zum Obmann des Vorstands gewählt worden, und er übernahm jetzt das Wort vom Sekretär. Mit ein paar einfachen Sätzen dankte er der Versammlung für das Vertrauen und versprach, sich voll für die Zukunft des Vereins einzusetzen.
Wer hatte eine Ahnung davon, daß er der letzte Obmann sein würde, und daß zwei Jahre nach dieser Wahl ein Beschluß des Gemeinderats die Obstbäume fällen, das Gemüse und die Blumen unter Bulldozzern zermahlen und unser Kinderparadies mit einem Schlag vernichten würde?
Aber an diese Möglichkeit dachte heute niemand, besonders jetzt nicht, da Herr Hitzinger die ersten zerrissenen Töne aus seinem Instrument quetschte, wie um es aufzuwärmen. Und dann begann das erste Lied, die ersten Tänzer fanden sich ein, der Wein floß schneller durch die Kehlen, die Nacht wurde noch dunkler und rückte damit die Menschen näher aneinender. Und die Stimmung stieg an, Zufriedenheit breitete sich wie weiche Daunenflocken über die Gemüter.

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås, Schweden 1996


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