DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Io


So ein Tempo! Welch wunderbares Gefühl, förmlich über das Wasser zu fliegen! Es fällt schwer, ein Erlebnis auszudrücken, dessen Kraft und Größe man gestern noch nicht einmal ahnen konnte. Es ist so als ob sich die Argo selbst in ein Wesen verwandelte, das mit uns allen zusammengeschmolzen ist, als ob sie all unsere Kraft und unseren Individualismus sammelte und vereinigte, dann diese vervielfältigte und sie dann in einer Art von übernatürlicher Einheit verwirklichte. Diese Erfahrung muss nahe der Grenze der Wirklichkeit liegen, wenn man sieht, wie die Bäume am Ufer in rasender Eile vorüberziehen.

Einen Ansatz davon bemerkten wir schon gestern nach dem Stapellauf, als wir eine Probefahrt machten. Wir ruderten nur ein paar Stunden hinaus, vor allem um zu sehen, wie das Schiff im Wasser lag und um das Ungeheuer, wie es einige Skeptiker nennen, erprobt zu haben. Aber gestern ruderten wir vorsichtig, abwartend, bereit auf jedwedes unerwartete Ereignis. Es geschah gar nichts. Die Argo benahm sich prächtig und mit jedem Ruderschlag war unser Vertrauen in sie gewachsen. Trotzdem erreichten wir gestern nie diese frenetische Begeisterung, diesen Eifer, mit dem jetzt die Ruder eingetaucht werden, nach vorne gezogen und dann empor- und zurückgezogen werden. Es ist als ob wir unsere eigenen und des Schiffes Grenzen finden wollten.

Am Tag davor, also vorgestern, hatten wir eine Großversammlung am Strand, bei der erstmals alle Argonauten zusammen gekommen waren. Wir besetzten einige Offziersplätze und verteilten die Plätze an den Rudern, so dass alles fertig war. Bei der Wahl hatten tätsächlich ein paar Leute mich als Kapitän vorgeschlagen. Ich konnte kaum meinen Ohren glauben. Aber klar, der Kampf gegen die Giganten hat mir etliches an Ruhm eingebracht. Natürlich fühlte ich mich geschmeichelt, aber ich konnte die Nominierung ja nicht annehmen. Das hier ist Jasons Expedition, er hat vor allen Dingen Grund dazu und außerdem hat er auch die Initiative dazu ergriffen. Deshalb entsagte ich sofort und vertrat meinen Standpunkt, dass es für mich nur einen Mann für den Kapitänsposten geben konnte, nämlich Jason. Und er wurde dann auch von der Versammlung gewählt. Ich freute mich aber auch über meine Ernennung zum ersten Offzier und meinen Platz am Steven, während Peleus und Telamon, die Söhne des Aiakos zweite Offiziere wurden und im Achter stationiert waren. Dass Tiphys unser erster Steuermann sein würde, war ja schon im Voraus bestimmt worden, während Erginos und Ankonos beide als zweiter Steuermann berufen wurden. Es war auch selbstverständlich, dass Orpheus den Takt angeben würde, sowie dass Erivotis aus Lokris unser Schiffsarzt sein würde, weil er die besten medizinischen Kenntnisse hatte.

Am Abend hielten wir ein große Feier zu Ehren Poseidons und bei dem anschließenden Bankett waren auch die Einwohner von Jolkos dabei. Das Fest dauerte dann bis in die frühen Morgenstunden.

Natürlich gab es weitere freudige Wiedersehen, aber sicher ebenso viele neue Bekanntschaften. Ich traf Atalanta zum ersten Mal, die einzige Frau auf dieser Fahrt - aber sie ist schließlich so berühmt, dass alle schon wissen, dass es nichts gibt, in dem sie mit uns Männern nicht mithalten könne. Butes und Phalerus setzten sich auch eine Weile zu uns - klar, da beide aus Athen sind, zog es sie ganz logisch zu ihrem König.

Selbstverständlich wurden auch jede Menge Geschichten erzählt. Wir waren gerade auf das Thema der Stadtgründung und auf Gründererzählungen zu sprechen gekommen, als mich Aithalides aus Thessalien, ein großer und charmanter Jüngling, fragte, wer denn Theben gegründet hatte.

"Das war Kadmos", sagte ich. "Aber eigentlich war es die Schuld unserer beider Väter, die es dazu kommen ließ."

"Naja", widersprach Aithalides, "mein Vater war ja nicht so stark beteiligt. Er tat ja schließlich nur, was ihm aufgetragen worden war."

"Ja, ja. Das behaupten alle Feiglinge, dass sie nur den Auftrag hatten", grinste ich. Und als ich sah, dass Hylas wie ein Fagezeichen aussah, setzte ich fort:

"Der Vater von diesem jungen Mann ist Hermes. Und es ist schon sehr lange her, dass meinem Vater ein schönes Mädchen aus Nordafrika auffiel, aus dem Land König Agenors. Um es genauer zu sagen, hieß das Mädchen Europa."

"Wenn Du ohnehin von vorne beginnen willst, kannst Du ihm ja gleich erzählen, dass Agenor der Großenkel von Io gewesen ist. Io war ja eine andere Geliebte Deines Vaters", warf Aithalides mit einem freundlichen Lächeln ein. Ich mochte diesen immer gut aufgelegten, jungen Krieger, der nicht nur ein guter Bogenschütze war, sondern dem nicht zuletzt auch ein besonders gutes Gedächtnis eigen war. Deshalb hatte er oft Aufträge als Herold, weil er normalerweise jeden Text und jede Diskussion wortgetreu wiedergeben konnte.

Außerdem hatten wir um diese Zeit schon so viel Wein gebechert, dass es ein Vergnügen war, einander ein wenig aufzuziehen.

"Das schon", antwortete ich deshalb herausfordernd, "aber weißt du, wer der Vater von Io war?"

"Sicher, der Flussgott Inachos. Und dessen Eltern waren Okeanos und Tethys", setzte Aithalides hinzu, während er mir zuzwinkerte. "Inachos war übrigens auch der erste König von Argos. Aber weißt du, warum sein Fluss und außerdem die ganze Argolis so wasserarm sind?"

Davon hatte ich keine Ahnung, deshalb forderte ich ihn auf, zu erzählen. Und jetzt, nachdem er die Frage angeschnitten hatte, konnte er es ja nicht gut bleiben lassen.

"Inachos sollte als Richter entscheiden, als Hera und Poseidon sich um die Vormacht in der Argolis stritten", begann Aithalides. "Und als Inachos Hera wählte, war Poseidon ziemlich sauer. Er hatte ja auch gerade das Gebiet um Athen an Athena verloren. Deshalb bestrafte er Inachos, dadurch dass er das Wasser im seinem Fluss, wie auch in der ganzen Landschaft stark reduzierte.
Als Inachos Tochter Io dann erwachsen war, schien es ziemlich natürlich, dass sie Priesterin im Heratempel in Argos wurde. Als dein Vater sie dann unbedingt verführen wollte, hatte Hera doppelten Grund, sich erniedrigt zu fühlen."

"Ja, aber Hera geht ja ins Extreme mit ihrer Eifersucht", entgegnete ich. "Ich will Zeus nicht verteidigen, aber er hatte ja eine Nebelwolke erschaffen, damit er nicht ertappt werde, als er Io verführte."

"Hoho", lachte Aithalides, "den Nebel hat er wohl gebraucht, sodass ihm Io bei seinen frevelhaften Absichten nicht entwischen konnte, nicht um sich selbst zu verstecken."

"Ach, das kannst du ja gar nicht wissen", fuhr ich in meiner Rolle als Verteidiger fort. "Aber sogar wenn es so gewesen sein sollte, war es die Schuld von Heras krankhaftem Verdacht, dass sie den Nebel auflöste. Aber weil mein alter Herr das merkte, verwandelte er das Mädchen schnell in eine Kuh, damit sie beschützt sei. Und was geschah? Diese alte Hexe, mit der er verheiratet ist, wollte unbedingt die Kuh als Geschenk von ihm. Was sollte mein Vater tun? Er musste ja das Gesicht wahren und ihr die Kuh schenken. Aber das gab ja Hera auch wieder keinen Freibrief, die Kuh so zu plagen, dass es ihr fast den Verstand raubte."

"Na, also so arg waren die Plagen ja gar nicht, wenigstens anfangs nicht", meinte mein Gesprächspartner. "Io hatte zwar den hundertäugigen Argos als Wächter bekommen, weil Hera sie unter Aufsicht halten wollte. Aber sonst ging es ihr doch nicht so schlecht."


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"Ach nein, du meinst wohl es sei ein Vergnügen, als Kuh herumzulaufen!" Meine Stimme hörte sich jetzt ziemlich spöttisch an. "Sodass sie, als sie nach langer Zeit dann wieder ihren Vater traf, nicht mit ihm reden, sondern nur mit den Hufen in den Sand zeichnen konnte, um ihm zu erklären, was ihr geschehen war.... Es ist doch ganz klar, dass mein Vater ihr helfen wollte. Und hier kommt ja auch dein Vater wieder ins Bild. Wie stellte er sich eigentlich an, um Argos zu überlisten?"

"Ja, also nachdem Zeus ihn gebeten hatte, Io von ihrem Wächter zu befreien, verkleidete sich Vater als Hirt und begann auf der Panflöte zu spielen - du weißt schon, die wird auch Syrinx genannt - als er in die Nähe des Berges kam, wo Argos auf Io aufpasste. Weil Argos die Musik gefiel und er gar nichts gegen ein wenig Gesellschaft hatte, begann er, mit meinem Vater zu sprechen. Und nach vieler Mühe, vielen Geschichten und noch mehr Flötenspiel gelang es meinem Vater endlich, alle hundert Augen einzuschläfern. Dann schlug er Argos den Kopf ab." Aithalides sah mich fragend an. "Du weißt doch, dass Hera dann alle hundert Augen auf das Gefieder der Pfaue setzte? Aber was ich nicht begreife, das ist, warum Zeus nicht einfach Io zurückverwandelte?"


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"Pah, du kennst Hera nicht", antwortete ich mit Abscheu. "Außerdem hatte er ihr die Kuh ja wirklich geschenkt. Aber dass Hera dann so grausam war, dass sie Io mit der Bremse plagte, die sie ständig irritierte und stach, das ist ja wieder nur ein Beweis für ihre niedere Gesinnung. Am Ende wusste sich Io nicht mehr zu helfen, sondern galoppierte um die halbe Welt. Am Bosporos, was ja Kuhfurt bedeutet, verließ sie sogar Griechenland. Aber Hera ließ sich nicht erweichen, bevor Io in Ägypten zusammenbrach. Dann erst durfte Zeus sie zurückverwandeln, aber auch nur, wenn sie versprach, nicht nach Griechenland zurückzukommen. Man behauptet, dass er ihr nur die Hand auflegte, um sie Epaphos empfangen zu lassen, aber ich glaube ja, dass er damals Hera überlisten konnte und seinen Willen erfüllt bekam."

Ein leichtes Lächeln spielte um die Lippen aller Zuhörer und schloss damit auch den Abend ab, sodass wir noch ein paar Stunden Schlaf fanden, bevor wir heute aufbrachen. Wir fahren jetzt noch nicht in Richtung Kolchis, sondern zuerst hinauf nach Thrakien, weil Orpheus uns eingeladen hat. Er will uns in seine Mysterien einweihen. Auf diese Art können wir uns auch näher an der Küste halten, während wir das Boot noch nicht hundertprozentig beherrschen.


© Bernhard Kauntz, Västerås 2000


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