Stille Nacht - eine philosophische Betrachtung


Wir sollten zunächst festlegen, dass "Stille Nacht, Heilige Nacht" ein österreichisches Lied ist. Darauf komme ich später zurück. Aber es ist wohl nicht mehr als recht, dass wir am Anfang einen Österreicher die Originalversion singen hören, nicht wahr?

Peter Alexander

Ich habe ein spezielles Verhältnis zu diesem Lied. Ich wurde schon als Kind darauf geprägt. Wir waren keine besonders gläubige Familie, aber am Heiligen Abend wurde Stille Nacht und Oh Tannenbaum gesungen, bevor es Geschenke gab. Diese lagen schön verpackt unter dem Baum. Die Konzentration war wohl eher auf sie gerichtet, als auf die Weihnachtslieder. Dennoch haben Letztere auf mich einen bleibenden Eindruck gemacht, vor allen Dingen, das Stille Nacht.
Vielleicht hängt das mit der österreichischen Tradition am Weihnachtsabend zusammen. Da gibt es keine aufgeputzten Christbäume schon Anfang Dezember, nein, die werden erst am Heiligen Abend schön gemacht, und zwar in der Abwesenheit der Kinder. Meiner Mutter fiel es vermutlich nicht so leicht, neugierige Blicke fernzuhalten, weil wir nur eine Zimmer-Küche Wohnung hatten. Wir waren übrigens heilfroh, dort zu wohnen, denn nach dem Krieg gab es noch viele Menschen, die immer noch bei fremden Menschen in Untermiete einquartiert waren. Das war eine Weile auch bei uns so gewesen, aber ich nehme an, dass wir bevorzugt wurden, weil es in der Familie kleine Kinder gab. Ich erinnere mich heute noch an das Gefühl, in eine "eigene" Mietwohnung zu kommen - an den Stolz, mit dem ich die Netztasche in einen Winkel des Zimmers stellte, das dann in Kombination zum Wohnzimmer, Schlafzimmer und Kinderzimmer wurde.
In die glaslosen Fensterrahmen hatte man Kartonstücke gesteckt, sodass der Wind nicht durch die ganze Wohnung wehen sollte. Kochen und essen konnten wir auf jeden Fall in der kleinen Küche. Es gab natürlich überhaupt keine Einrichtung in diesen vielleicht dreißig Quadratmetern, sondern es war ein großes Glück, dass es Strom- und Gasanschlüsse gab. Alles Andere musste man mit der Zeit selbst anschaffen. Wasser mussten wir ein halbes Stockwerk tiefer holen und die Toilette im Stiegenhaus mussten wir mit den Nachbarn teilen. Es gab nur eine Nachbarwohnung, denn die andere Wohnung lag in dem zerbombten Teil des Hauses. Es ist über alle Grenzen bewundernswert, dass es meiner Mutter nur in ein paar Jahren gelang, von diesem Chaos ein einfaches, aber dennoch gemütliches Zuhause zu erschaffen.
Sie fragen sich vielleicht, was das alles mit Weihnachten zu tun hat. Ich werde das bald erklären, aber ich finde, dass wir uns zunächst eine schwedische Version des "Stilla Natt" anhören.

Carola Häggkvist

Aber jetzt zurück zur Tradition. Natürlich wussten wir Kinder, dass es bald Weihnachten werden würde und selbstverständlich würde es da auch ein Geschenk geben, auch wenn es nur ein paar gestrickte Socken waren. Irgendein kleines Spielzeug war aber auch immer dabei. Aber jetzt hatte man die Erwartung aufgebaut und die steigerte sich noch am Heiligen Abend, an dem der Tag nie vergehen wollte. Jetzt würde ja das Christkind mit dem Baum und den Geschenken kommen. Das Christkind kam als Engel durch das Fenster, sodass man es nie zu Gesicht bekam. Denn wenn es den Baum aufgestellt und die Geschenke darunter gelegt hatte, läutete es mit einem Glöcklein, das auch im Baum hing, und das als Zeichen galt, dass es fertig war und wieder wegflog. Da durfte man endlich die Tür aufmachen und durch den Anblick vor Freude erstarren. Im Zimmer war es dunkel, nur die Kerzen im Tannenbaum leuchteten, vielleicht zusammen mit einem Sternspucker. Das ganze Weihnachten war auf diesen einzigen, überwältigenden Augenblick hin aufgebaut. Daher ist es vielleicht nicht so überraschend, dass ich das Stille Nacht mit diesen Augenblicken verknüpfte.
Einen der größten Kulturschocks erlebte ich, als ich nach Schweden kam und hier nur lustige Kinderlieder hörte, wo die Heinzelmänner die Gläser füllten und die Füchse übers Eis liefen ...
Bei mir zu Hause wurde aber meine Tradition fortgesetzt, das mussten meine Gattinnen akzeptieren. (Nein, ich war kein Bigamist, die eine kam nach der anderen, oder - besser gesagt - umgekehrt.)
Ich werde, wie schon gesagt, auf das Stille Nacht zurückkommen. Lassen Sie mich nur einfügen, dass ich glaube, dass es das Lied mit der größten internationalen Verbreitung überhaupt ist. Ich habe im Internet gesucht und das Resultat ist faszinierend. Die Melodie gibt es in allen erdenklichen Ländern. Wie sehr der Text in den verschiedenen Sprachen mit dem Original übereinstimmt, weiß ich in den meisten Fällen leider nicht. Hier kommt auf jeden Fall eine slowenische Version, mit dem Titel "Sveta Noč, Blažena Noč", der dem Original entsprechen sollte.
Saša Lendero

Meine Kinder mussten sich auch dareinfinden, auch als sie schon Teenager waren. Ich verstehe ja, dass sie auch von der umgebenden Gesellschaft beeinflusst wurden und dass sie es ein wenig lächerlich fanden, im Kinderzimmer sitzen zu müssen, sodass sie den Baum nicht vorzeitig sahen. Aber Tradition ist Tradition, wenigstens so lange sie bei mir lebten. Als sie dann eigene Familien hatten, führte keiner von ihnen die Tradition weiter. Ich finde, dass es schade ist, denn es ist ja trotz allem ein Teil ihres Kulturerbes - aber solche Dinge muss man eben akzeptieren, wenn man im Ausland lebt. Heutzutage treffen wir einander auch am Heiligen Abend nicht mehr, aber das ist wohl hauptsächlich meine eigene Wahl. Ich würde wohl zu einem von den Kindern kommen können, wenn ich sie fragte, aber ich würde nicht dieselbe Weihnachtsstimmung erleben. Wir sehen einander ja auf jeden Fall zu den Feiertagen, da kann ich den Heiligen Abend auf meine Art verbringen. Auch ich habe mich angepasst. Ich habe nunmehr einen kleinen Baum aus Plastik, aber sonst folge ich meiner Routine, auch wenn ich allein bin. Wenn es anfängt dunkel zu werden, hole ich den "Tannenbaum" aus der Abstellkammer und suche die Kugeln und das Lametta hervor. Aber bevor ich anfange, den Baum zu schmücken, ziehe ich bessere Kleider an, als ich sonst zu Hause trage.
Dann versuche ich, im Radio eine Station zu finden, die Weihnachtslieder spielt, um in Stimmung zu kommen. Eine andere Möglichkeit ist, dass ich meine eigenen Lieder spiele, die ich am Computer habe. Aber das ist nicht dasselbe, denn da weiß ich ja, was kommt,. Das ist kein richtiges Live-Gefühl. Und dann, als letzte Vorbereitung, gestatte ich mir einen Schluck Whisky, der sich nicht im Glas versteckt. Dann ist die Reihe an den Baum gekommen und wenn alles fertig ist, drehe ich das Licht ab und singe Stille Nacht. Ich bin wohl ein Anachronismus in unserem hektischen Zeitalter, aber so muss es sein. Eine Weile ruhige Beschaulichkeit muss am Heiligen Abend sein.
Aber es wird wieder Zeit für eine andere Version des Liedes. Hier kommt "Oiche Chiúin", was Irisch ist und wortgetreu "Stille Nacht, Nacht des Gottessohnes" bedeutet.
Enya

Aber jetzt zu ein paar Fakten: Joseph Mohr war ein junger Vikar in Mariapfarr, im Süden des Landes Salzburg. Dort schrieb er 1816 ein Gedicht, das er "Stille Nacht" nannte. Beim Kongress in Wien, 1814/15, nach den Napoleonkriegen, wurde beschlossen, dass das Gebiet um Salzburg fortan zum Habsburgerreich gehören sollte. Früher war es ein bischöfliches Besitztum gewesen. Aber 1816 war es also schon ein Teil Österreichs. Als Joseph Mohr nach Oberndorf kam, traf er Franz Gruber, der im Nachbardorf Arnsdorf Lehrer war und von den umliegenden Ortschaften auch als Organist bestellt wurde. Auch er war jung und anscheinend fanden Mohr und Gruber einander, weil der Hilfspfarrer den Organisten bat, sein Gedicht zu vertonen.
Das Werk hatte eigentlich sechs Strophen, aber heute singt man normalerweise nur drei, nämlich die erste, zweite und sechste. Das Lied hatte am Heiligen Abend 1818 in der Kirche St. Nikola in Oberndorf Premiere, als Mohr und Gruber es zu Gitarrenbegleitung vortrugen. Der Grund dafür soll gewesen sein, dass Mäuse die Luftzufuhr der Orgel angeknabbert hatten, sodass sie nicht funktionierte. Das ist aber nicht offiziell belegt. Dagegen weiß man, dass der Orgelbauer Karl Mauracher großen Anteil an der Verbreitung des Liedes hatte. Er hörte es, als er die Orgel in St. Nikola reparierte. Es gefiel ihm und er nahm es mit, nach Fügen in Tirol, wo er wohnte.
Im Jahr darauf wurde auch in Fügen zur Weihnachtszeit Stille Nacht gesungen. Weitere drei Jahre später, traf sich Österreichs Kaiser, Franz I, mit dem russischen Zaren Alexander I im Schloss von Fügen. Da hörten auch sie das Lied. 1833 wurde es zum ersten Mal gedruckt, aber da als "Tirolerlied". Nur fünfzehn Jahre später hatte man Mohr und Gruber vergessen und nahm an, es wäre ein Volkslied. Wir verdanken es den Nachforschungen von König Friedrich Wilhelm von Preußen, dass man die Urheber wieder fand.
Andererseits glauben heute die meisten in den USA, dass "Silent Night" eine amerikanische Volksweise ist ...
Bing Crosby

Es ist ein wenig ungerecht, dass die englische Version, international gesehen, das ganze Ansehen bekommt, weil im Prinzip überall statt "Stille Nacht" eben "Silent Night" gesungen wird. Ein Glück ist nur, dass das Lied (laut Wikipedia) in mehr als dreihundert verschiedene Sprachen übersetzt wurde. Das ist dagegen ganz in Ordnung, weil man auf diese Art ein kleines bisschen zum internationalen Verständnis beitragen kann - und dafür kann es niemals genug Anlässe geben.
Mein Onkel war in russischer Kriegsgefangenschaft und er erzählte, dass am Heiligen Abend jemand im Lager begann, Stille Nacht zu singen. Bald danach sangen alle mit, sogar die Wachen. Jeder sang in seiner eigenen Sprache. Man spürt ja fast, wie es kalt über den Rücken läuft, wenn man sich die Situation vorstellt.
Ivan Rebroff singt jetzt auf Russisch und gibt uns "Oh Tannenbaum" als Draufgabe.
Ivan Rebroff

Wenn man ein paar Nachforschungen anstellt, so wie ich es in diesem Fall getan habe, lernt man immer Dinge, von denen man keine Ahnung hatte. Ich habe ja vor langer Zeit Sprachwissenschaft studiert, deshalb fiel mir auf, dass "Nacht" ein uraltes, indogermanisches Wort sein muss. In allen germanischen, lateinischen und slawischen Sprachen, die ich kenne, beginnt das Wort nämlich mit "n" und endet auf ein "t", meist zusammen mit einem zischenden oder gehauchten Laut. Dieser kann vorher stehen, wie im Deutschen oder Niederländischen "nacht" und im Griechichen "nichta", oder aber nachstehend sein, wie im Spanischen "noche" (ch = tsch), im Slowenischen "noč", im Tschechischen und Polnischen "noc" oder im Russischen "notsch".
Hier muss ich jetzt Nachschlagewerke zu Hilfe nehmen und lerne, dass das Wort als "naht" auf das frühe Germanische zurückgeht, und noch länger zurück in der Geschichte als "nokt" im Indoeuropäischen und sogar als "nakti" im Sanskrit vorkommt.
Außerdem lerne ich, dass man im Altgermanischen nicht die Tage gezählt hat, sondern die Nächte. Ein Überbleibsel davon ist das englische "fortnight", was einen Zeitraum von vierzehn Tagen angibt ("fort" ist eine Abkürzung von fourteen). Mit den heutigen Hotelpreisen überlegt man, ob man nicht zur Nachtberechnung zurückkehren sollte, damit man schneller sieht, wie lange man sich einen Aufenthalt leisten kann.
Wir hören uns noch eine Variante an, die aus einer indoeuropäischen Sprache hervorgegangen ist, nämlich das spanische "Noche de paz", was "Nacht des Friedens" bedeutet.
Christine D'Clario

Als Sprachwissenschafter ist man sich auch bewusst, dass es zwischen den germanischen und slawischen Sprachen eine Sprachengruppe gibt, die ihren Ursprung nicht im Indoeuropäischen hat. Diese Sprachen liegen in einer Linie von Norden nach Süden und umfassen Finnisch, Estnisch und Ungarisch. Ganz richtig kann man auch hier Ähnlichkeiten feststellen, auch wenn man diese Sprachen nicht beherrscht. Das Finnische singt von der Weihnachtsnacht joulu"yö", während die estnische Nacht "öö" heißt. Von hier ist es ein bisschen länger zum ungarischen "éj", aber in allen drei Sprachen hat das Wort nur zwei Buchstaben und besteht (fast) nur aus Vokalen. Das Samische und das Karelische gehören auch zur finnisch-ugrischen Sprachengruppe, zusammen mit einem Teil der Sprachen im Ural (mitten in Russland), wie Komi, Mansi, Mari und andere.
Die drei baltischen Länder werden oft als Einheit behandelt, aber das gilt nicht ihren Sprachen. Im lettischen "nakts" und in Litauens "nakti" sehen wir ganz deutlich, dass sie sich durch ihr indogermanisches Erbe vom Estnischen unterscheiden. Hören wir uns jetzt ein estnisches Stille Nacht an: Püha öö
Karavan

Ich versuche bei den Texten mitzuhören, auch wenn ich die Sprache nicht kann. Man kann einzelne Wörter heraushören, wenigstens wenn man weiß, worum es geht. Man kann Namen wie "Maria, Jesus, Christus" und Wörter wie "Hallelujah" meistens ziemlich leicht verstehen. Auf diese Art kann man wenigstens bestätigen, dass der Inhalt ungefähr mit dem Originaltext übereinstimmt.
Maltesisch ist eine interessante Sprache. Ursprünglich ist sie Arabisch, aber es gibt einen riesengroßen italienischen Einfluss. Italienisch war bis 1964 auch eine offizielle Sprache auf Malta, bis die Insel selbständig wurde. Ganze 52 Prozent des Wortschatzes kommen aus dem Italienischen. Außer Maltesisch ist heute Englisch eine offizielle Sprache. "Lejl ta' skiet" - der Titel bedeutet Stille Nacht, gibt es auf einer CD, die "Helu Bambin" heißt. Bambin kommt natürlich vom italienischen "bambino" und "helu" bedeutet "süß", meinen Wörterbüchern nach zu schließen. Das süße Kind ist natürlich Jesus. Und jetzt rate ich einmal: Könnte es sein, dass "helu" englischen Ursprungs ist und von "holy" abstammt? Wie auch immer - hier kommt Stille Nacht auf Maltesisch:
Choir

Wenn man einen solchen Artikel schreibt, dann hat man genug Zeit um die Gedanken frei laufen zu lassen, während man der Musik zuhört. Eine Frage, die dabei auftauchte, betraf den Unterschied zwischen Glauben und Religion. Gibt es einen Glauben ohne Religion? Gibt es eine Religion ohne Glauben? Vielleicht sollte ich erst die Begriffe definieren: Glaube ist eine Vorstellung einer höheren Macht, einer Initialkraft - ob das jetzt die Sonne oder ein Gott oder sonst etwas ist. Und deshalb finde ich, dass man die Frage mit ja beantworten muss, ob es einen Glauben ohne Religion gibt. Jeder Mensch, der irgendwann gelebt hat, hat die Möglichkeit gehabt, seinen eigenen Glauben zu vertreten, selbst wenn er fern von jeglicher Gemeinschaft aufgewachsen wäre.
Religion ist dagegen das "Gesetzbuch" des Glaubens, das vorschreibt, woran man glauben soll, welche Regeln im Leben gelten, und so weiter. Die Frage, ob es eine Religion ohne Glauben gibt, ist widersinnig. Denn selbst wenn es im Prinzip möglich wäre, würde bald irgendein Scharlatan, Schamane, Priester oder eine Kirche versuchen, die Anhänger unter Druck zu setzen, um sie kontrollieren zu können. Obwohl - bei der Huhn-oder-Ei-Frage ist es wohl so, dass der Glaube zuerst kommen muss. Und natürlich kann man glauben, ohne an eine Religion zu glauben.
Ich frage mich, was die Eskimos für Glauben haben, sofern sie nicht vom Christentum missioniert worden sind. Letztere gibt es ganz bestimmt. Hier ist Stille Nacht auf Inuktitut, das heißt, in der Sprache der Inuiten, wie die Eskimos eigentlich heißen. "Unnuaq Upinnaq":
Beatrice Deer

Wenn wir schon über das Missionieren sprechen: es reicht ja leider nicht, zu sagen, dass es eine christliche Gemeinschaft war, die diverse Völker zum "richtigen" Glauben bekehrt hat. Waren es orthodoxe Missionare, oder katholische, kamen sie aus einer der protestantischen Glaubensrichtungen oder vielleicht aus einer selbstgestrickten, unabhängigen, christlichen Religion? Wie hat das die Textübersetzung des Stille Nacht beeinflusst? Gar nicht, sagen Sie? Ich bin da nicht so sicher. Ich kann zu wenige Sprachen, um mir darüber eine Meinung zu bilden, aber ich weiß, dass es in den Niederlanden eine katholische und eine protestantische Version des Liedes gibt. Ist das eigentlich nicht ziemlich erschreckend?
Genauso schrecklich ist es, wenn man an all die Untaten denkt, die aus diesen Zersplitterungen entstanden sind. Der ganze Dreißigjährige Krieg war ja die Folge einer Glaubensfrage. Zwangstaufen und Landesverweise waren tägliche Vorkommnisse. Aber schon ein paar Jahrzehnte vorher herrschten die Gegensätze über Frankreich, was in der Bartholomäusnacht, am 24. August 1572 kulminierte. Da geschah eine der blutigsten Taten überhaupt, als mehrere tausend Hugenotten ermordet wurden. Hugenotten waren Anhänger von Calvins protestantischer Lehre. Aber wir brauchen gar nicht zur Geschichte greifen, es genügt, wenn wir die Blicke auf Nordirland richten, wo Protestanten und Katholiken einander noch immer nicht gut gesinnt sind. Und beide berufen sich auf denselben Gott. Auf wessen Seite steht er wohl?
Die meisten von uns sehnen sich sicher danach, dass der Frieden nicht nur in der Heiligen Nacht regieren solle ... Eine indianische Version, gesungen auf Arapaho, mag uns an die blutige Unterwerfung der Indianer erinnern, deren sich Pizarro, Cortes und viele andere schuldig machten.
Jana Mashonee

Ich habe über das Verbrechen des Christentums an der Menschheit geschrieben, wo die Inkvisition auch die Eigenen verfolgte und nicht nur Andersdenkende. Aber ich möchte dazufügen, dass dies nur daher kommt, dass ich über die Geschichte anderer Religionen nicht genug weiß. Ganz bestimmt gibt es ähnliche Verbrechen in den meisten. Sehen Sie nur die Splitterung des Islams in Sunni und Shia und den Streit zwischen ihnen, um nicht von den rücksichtslosen Terrorattacken in der ganzen Welt zu sprechen. Sehen Sie nur, welch gräulichster Verbrechen sich das Judentum in Israel schuldig macht, seinen Nachbarländern und vor allen Dingen den Palästiniern gegenüber. Und ich vermute sehr, dass im Hinduismus, Buddhismus, Shintoismus, oder wie auch immer sie heißen mögen, genau dasselbe passiert.
Aber auch das Arabische hat eine Version von Stille Nacht, die passt doch hier? Es ist ein wenig schwierig, den Titel zu übersetzen, weil sich die Sprache so anders ausdrückt. Das Wort "Liedertext" müsste wörtlich ungefähr so übersetzt werden: "Ein Gedicht mit Versen zu singen". Hier folgt es auf jeden Fall:
George Martinos

Habe ich jetzt genug auf die Religionen geschimpft? Da will ich einmal den Spieß umdrehen und behaupten, dass die Religionen großartige Kulturvermittler sind. Vor allem in einer Zeit, in der die meisten Menschen weder schreiben noch lesen konnten, waren sie wichtig. Men denke nur an die Bibliothek im Vatikan (die man zwar ohnehin nicht besichtigen kann), aber denken sie auch an die Arbeit der Klosterbrüder.
Sie kopierten unzählbare Texte und Bücher, Schriften, die uns heute sonst wahrscheinlich nicht erhalten geblieben wären. Denken Sie nur an all die Kunst, die in heiligen Stätten verwahrt wird und denken Sie auch an die Gebäude selbst. Und denken Sie schließlich an die heilige Schriften der Religionen, die ja nicht nur aus Lebensregeln bestehen, sondern wo es auch eine überlieferte Geschichtsbeschreibung gibt, wie zum Beispiel im Alten Testament. Wieviel davon wahr ist, ist eine andere Frage. Aber ich glaube doch, dass die großen Züge einigermaßen stimmen. Die Wissenschaft hat ja gezeigt, dass Jesus wirklich gelebt hat. Die Schilderungen der Sintflut gibt es in vielen Religionen über die ganze Welt verteilt, was auch ein Zeichen dafür ist, dass es wirklich geschehen ist.
Wer an etwas anderen Theorien interessiert ist, zum Beispiel an denen, die Erich von Däniken vorgelegt hat, kann ja über den Propheten Hesekiel (oder Ezechiel) lesen und selbst entscheiden, ob das, was er beschreibt, nur eine Erfindung ist. Oder ob er vielleicht wirklich in einem "Himmelswagen" entführt wurde. Hier rechts ist das Gemälde von Hesekiel, das Michelangelo in Rom, in der Sixtinischen Kapelle erschaffen hat.
Natürlich soll man nicht alles buchstabengetreu glauben, wie es zum Beispiel in der Bibel steht. Selbstverständlich sind die Texte verändert worden, manchmal durch Zufälligkeiten, manchmal mit Absicht, wenn man die Texte übersetzt oder kopiert hat.
Ich behaupte auch keineswegs, das man die Bibel von Seite zu Seite lesen muss, nur weil man in einem christlichen Land lebt. Aber ich finde, dass es zur Allgemeinbildung gehört, dass man wenigstens die Grundzüge kennt, die darin stehen. Adam und Eva, Moses und das Leben Christi in großen Zügen - das ist wohl ein Minimum an Wissen, das jeder von uns haben sollte. Leider ist es ja nicht so. Die Protagonisten in "Star Wars" und die Schlagertitel des Favoritsängers sind weit interessanter. Verstehen sie mich nicht falsch, es ist kein Fehler, diese zu kennen, auch das ist schließlich Kultur.
Aber ich finde doch, dass dies ein Teil der Kultur ist, der viel leichter wiegt und der den Gang der Zeit nicht so lange überleben wird, wie andere Kulturgeschichte, die jetzt schon ein paar tausend Jahre alt ist. Aber ich verurteile nicht, mag jeder auf seine Art glücklich werden ... Letztendlich ist aber auch das Stille Nacht Kulturgeschichte, das schon zweihundert Jahre überlebt hat - und das vermutlich eine größere Verbreitung hat, als das Christentum selbst. Was sagen Sie zu einer japanischen Version? "Kiyoshi kono yoru"
Hatsune Miku

Ich muss gestehen, dass ich sehr erstaunt war, dass ich das Lied im Internet in so vielen Sprachen gefunden habe. Viele von ihnen werden ja recht traditionell vorgetragen, auch wenn eine oder die andere Art sich vielleicht ein wenig eigenwillig anhört. Und ein wenig verwunderlich ist es, dass es Stille Nacht auch auf Swahili gibt. Aber das ist so ...
Jackie Shiku

Was die verschiedenen Sprachen betrifft, habe ich vom Bestehen einiger gelernt, die ich wirklich nicht kannte. Als Sprachwissenschafter, der ich sein sollte, hätte ich wissen müssen, dass Kaschubisch eine Sprache ist, die in den Grenzgebieten von Deutschland und Polen gesprochen wird. Und das noch mehr, weil das Lied sich "Cëchò noc" betitelt und daher ganz klar auf slawischen Ursprung deutet. Aber von Chamorro hatte ich ganz bestimmt noch nichts gehört. Nunmehr weiß ich, dass es um das Volk und die Sprache auf den Marianerinseln geht. Diese liegen im Pazifik, südlich von Japan und östlich der Philippinen. Dort wohnen etwa 77.000 Personen und noch 50.000 haben es als Muttersprache, leben aber anderswo, hauptsächlich in den USA.
Genauso wenig hatte ich von Srnan(tongo) gehört. Diese Sprache ist sogar ein wenig größer als Chamorro. Man nimmt an, dass ungefähr 300.000 diese Sprache beherrschen. Sie wird in Surinam gesprochen. Wenn man weiß, woher sie kommt, kann man daraus sogar einen anderen Schluss ziehen, wie mein Sohn Gunnar, als ich mit ihm darüber diskutierte. Er schlussfolgerte, dass "Srnantongo" ganz einfach "Surinams Zunge" (Zunge = Sprache) bedeutete und ich habe keinen Grund, das zu bezweifeln. Als ich in die Schule ging, hieß das Land noch "Niederländisches Guyana" und war eine niederländische Kolonie. Diese wurde 1975 selbständig und nahm damals den neuen Namen an. Hier kommt Stille Nacht auf Surinamisch - Verzeihung, Srnantongo: "Switi tem bleiti tem".
Marlene Maridjan

Es gibt noch viel mehr Varianten von Stille Nacht, aber ich kann ja wirklich nicht alle abspielen, die ich gefunden habe. Ich hoffe, dass ich trotzdem zeigen konnte, wie international das Lied in den zwei Jahrhunderten geworden ist, seit seiner Uraufführung in Oberndorf. Während man vermuten kann, dass der Einfluss der Philippinen (Chamorro) und den Niederlanden (Srnantongo) das Lied verbreitet hat, gibt es sicher großen chinesischen Einfluss in den asiatischen Sprachen. Hier wird es in Mandarin gesungen:
Joanna Chang

Damit danke ich für Ihr Interesse; ich hoffe, dass Ihnen der Artikel eine wenig Freude gemacht hat. Ich selbst wünsche mir - und ist nicht Weihnachten die Zeit des Wünschens - dass die Welt mit ihrem Zerstörungswahnsinn aufhören möge.
Hoffen wir auf eine einzige Stille Nacht, wie sie mein Onkel im Gefangenenlager erlebt hat, und lasst uns diese als Grundstein verwenden, um auf der Erde Frieden zu machen. Ich weiß, wie naiv und unmöglich so ein Wunsch ist. Aber wäre es nicht ebenso naiv und unmöglich gewesen, wenn Mohr und Gruber sich vor zweihundert Jahren gewünscht hätten, dass sich ihr Lied in mehr als dreihundert Sprachen über die ganze Erde verbreiten würde?


Deshalb wünsche ich allen Menschen und Ihnen ganz persönlich


Copyright Bernhard Kauntz, Västerås 2019



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