DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Sieg?


Orchomenos ist nicht mehr, Erginos ist tot, wir haben gesiegt. Gesiegt? Wir haben gekämpft, wir haben Krieg geführt, wir haben getötet und wir waren stärker. Wir haben unser Ziel erreicht, wir sind nicht mehr von einer anderen Stadt abhängig, wir brauchen keinen Tribut mehr zu bezahlen. Trotzdem fällt es mir schwer, mich zu freuen, ich fühle mich nur ausgebrannt....

Oh nein, es ist nicht so, dass ich das alles bereue - hätten wir nicht gewonnen, hätten die Minyer uns dasselbe angetan, da würden wir - also die, die überlebten - jetzt gefangen sein, mit der frohen Aussicht, als Sklaven verkauft zu werden. Da wäre jetzt Theben zerstört und niedergebrannt, da würden unsere Kinder ihren Vätern nachtrauern. Obwohl viele von ihnen ohnehin trauern müssen, auch wenn wir "gesiegt" haben. Und gehöre nicht auch ich zu dieser Schar, auch wenn ich kein Kind mehr bin?

Aber ich muss mich jetzt etwas beruhigen, um alles der Reihenfolge nach erzählen zu können.

Als ich die Rüstung von den Göttern geschenkt bekommen hatte, war es natürlich ein Kinderspiel, auch König Kreon davon zu überzeugen, dass wir uns befreien mussten. Durch seinen Aufruf, aber nicht zuletzt auch durch Iphikles ständige Hetzreden, waren wir bald eine große Schar, die fand, dass die Minyer jetzt lange genug das Zepter geschwungen hatten. Großer Jubel brach am Marktplatz aus, als Kreon bekanntgab, dass wir die Rüstungen und Waffen verwenden konnten, die als Opfergaben unserer Vorväter in den Tempeln hängten. Und es war tatsächlich eine beträchtliche Anzahl, die wir da zusammenschleppten, sodass unser Optimismus noch gesteigert wurde.

Schon am Tag danach machten wir uns unter der Leitung von Amphitryon auf den Weg. Aber auch wenn wir fast tausend beherzte Männer zusammenbekommen hatten, war uns klar, dass wir zahlenmäßig den anderen weit unterlegen sein würden. Deshalb war es auch ganz unmöglich, Orchomenos direkt anzugreifen und dort die Schlacht zu schlagen, oder überhaupt irgendwo wo es offenes Terrain gab. Einen guten Tagesmarsch gegen Norden, gar nicht so weit von dem Ort, wo ich zum ersten Mal auf die Gesandten des Königs gestoßen war, gibt es aber eine kleine Anhöhe zu beiden Seiten des Weges, eine Stelle, an der das gegnerische Heer vorbeikommen musste. Dort schlugen wir unser Lager auf und Amphitryon erklärte uns seinen Plan.

Zusammen mit einer kleineren Schar sollte ich den Ausgang dieser Passage in Richtung Theben bewachen, die Minyer dort zum Stehen bringen und keinen durchlassen. Weil die Öffnung auf dieser Seite wirklich sehr schmal war, würden zehn Männer genügen, um standzuhalten, aber ich bekam trotzdem fünfzig zugeteilt, damit wir uns ablösen konnten.

Amphitryon, der, obwohl er oberster Befehlhaber unseres Kriegszuges war, darauf bestand, selbst Iphikles Streitwagen zu lenken, wollte zusammen mit einer größeren Abteilung die andere Seite des Passes bewachen, also den Eingang in die Schlucht, von Orchomenos aus gesehen. Wenn die Minyer wohl in der Falle waren, wollte er dort dichtmachen. Alle Streitwagen wurden ihm zugeteilt, weil sie dort ja rasch zuschlagen mussten. Die große Mehrzahl der Männer aber sollte die Hänge besteigen, um von dort aus freie Sicht auf das feindliche Heer zu haben und es zu vernichten.

Während wir warteten benutzten wir die Gelegenheit um das Terrain zu verbessern, um den natürlichen Schutz zu verstärken und um einige Fallen einzubauen. Als unsere Späher vier Tage später König Erginos Heer sichteten, waren wir bis auf den letzten i-Tüpfel vorbereitet.

Und anfangs ging alles genau wie vorhergesehen. Die Minyer waren nicht einmal auf den Gedanken gekommen, dass wir Widerstand leisten könnten. Sie hatten zwar einen Vortrupp ausgeschickt, den wir passieren ließen und erst übermannten, als er schon wieder aus dem Tal herausgekommen war, sodass uns die Spuren des Kampfes nicht verraten würden. Und dann spazierte das ganze Heer in guter Marschordnung genau dorthin, wo wir sie haben wollten.

Wir hatten den Auftrag bekommen, so lange wie nur möglich zu warten, bevor wir angriffen, denn wir rechneten damit, dass die ersten Reihen des Gegners in ihrer Überraschung ganz einfach kehrt machten, was die allgemeine Verwirrung noch steigern würde. Und konnten wir sie in die Reichweite unserer Pfeile bekommen, würden wir dann auch leichter die Attacke unterstützen können.

Wieder ging uns die Rechnung auf. Ich gab das Zeichen für den Angriff, als die erste Reihe nur noch zehn Meter von der engsten Stelle entfernt war. Da rollten wir zwei große, runde Felsblöcke den Berghang hinunter, um die Öffnung noch kleiner zu machen und dann schloss ich zusammen mit einigen Auserwählten den Ausgang ganz. Ganz richtig war die erste Reaktion der Gegner, umzukehren. Aber das ist nicht so einfach, wenn die Truppe weiter hinten nach vorne drängt.

Der Lärm unserer herabrollenden Steine war gleichzeitig das Angriffssignal für unsere Leute auf dem Berg. Sie hatten ihrerseits große Felsenstücke aufgebaut, die sie nun in einer ersten Welle hinunterstürzten und die in der Tiefe eine verheerende Wirkung hatten. Gleichzeitig mit den Steinen traf der erste Pfeilregen unsere Gegner und dann war der Ausgang der Schlacht schon entschieden. Wenigstens auf unserer Seite des Tales.

Ich verlor keinen einzigen Mann aus meiner Gruppe und auch unsere Männer auf den Anhöhen bakamen wohl kaum eine Schramme ab. Schlimmer sah es am anderen Ausgang aus, wo mich ein weinender Iphikles empfing und auf den Streitwagen zeigte, der ein Stück weiter weg stand.

"Vater liegt im Sterben", sagte er und ballte verzweifelt die Hände. Entsetzt rannte ich die paar Schritte zu unserem Fuhrwerk und wurde dort einem schrecklichen Anblick ausgesetzt. Weiß und blutleer im Gesicht lag mein geliebter Vater im Wagen, mit einem klaffenden Loch in der Seite und einem großen rotbraunen Fleck unter seiner Hüfte. Ich schluckte und schluckte und spürte, wie die Tränen aus den Augen rannen. Wie in einem Film sah ich die Zeit meiner Kindheit und Jugend vorbeifliegen und überall gab es Amphitryons ermahnendes, lachendes, ermutigendes oder augenbrauenrunzelndes Gesicht im Hintergrund. So viel hatte dieser Mann für mich getan - und so wenig konnte ich für ihn jetzt tun.

Ich umarmte Iphikles schweigend und aus dem Wesen des anderen gewannen wir beide neue Stärke. Es hatte so gut ausgesehen, erzählte er leise eine Weile später. Die Minyer waren in den Sack hineinmarschiert, aber es waren zu viele gewesen. Einige Wagen und vielleicht hundert Mann waren noch draußen auf der Ebene, als unser Angriff begann.

"Vater musste ja etwas tun", sagte Iphikles. Er konnte ja die, die schon heineingegangen waren, nicht wieder herauslassen. Also schickte er die Hälfte der Leute gegen die, die noch frei waren und versuchte, mit der anderen Hälfte die Talöffnung abzusperren. Das Problem war, dass wir dadurch in die Mitte genommen und von beiden Seiten angegriffen wurden. Wir verloren etwa die Hälfte unserer Männer, aber es waren auch nicht mehr als ein paar hundert der Feinde, die entkommen konnten.

Er schüttelte den Kopf. "Ich weiß auch nicht, wie es passiert ist, als Vater getroffen wurde. Ich hatte ja vollauf zu tun, nach beiden Seiten Ausschau zu halten und die Angriffe abzuwehren. Es geschah, als Vater auf der anderen Seite sah, wie die Minyer auszubrechen drohten. 'Halt dich fest', rief er mir zu und schoss schon in vollem Galopp durch das ärgste Gemetzel. Ich versuchte, uns beide mit dem Schild gegen die Angriffe von der Talseite her zu schützen. Aber bevor wir noch ganz hinübergekommen waren, hörte ich einen dumpfen Aufschlag und spürte, wie die Pferde plötzlich zügellos dahinrannten. Da hörte ich auch schon, wie Vater schrie: 'Nimm die Zügel!' Ich fuhr aus der schlimmsten Schlacht heraus, bevor ich mich um ihn kümmern konnte."

Wieder rannen Tränen über Iphikles Wangen. Hilflos hob er die Hände seitlich an und ließ sie wieder fallen. "Ich konnte nichts machen, Herakles. Eine Lanze war von hinten in die Rüstung gegangen, gerade dort, wo der Brustschild aufhört. So etwas passiert vielleicht einmal von tausend. Und er lag da und ich sah das Leben aus ihm herausrinnen und konnte noch immer nichts tun. Ich versuchte, die Wunde zusammenzudrücken, aber das half sicher auch nichts. Vater war noch bei Bewusstsein, er sah mich an und flüsterte: 'Gebt acht auf euch, Buben. Und passt auf Mutter auf.' Dann schloss er ruhig die Augen, ohne zu jammern oder zu klagen. Nur der zusammengebissene Mund zeigte, welche Schmerzen er hatte."

* * * * * * * * * *

Wir sammelten das Heer zu einem kurzen Ratschlag und beschlossen, dass Iphikles mit zehn Wagen und ein paar Mann unsere Verletzten und Toten nach Hause führen sollte, wie auch die paar Minyer, die die Schlacht überlebt, und die wir gefangengenommen hatten. Der Rest von uns war immer noch stark genug um die Verfolgung derer aufzunehmen, die entkommen waren, und auch um gegen Orchomenos zu ziehen.

Unter all den gefallenen Minyern gab es jede Menge Waffen und Rüstungen, sodass alle unsere Leute sich mit dem versehen konnten, was sie noch brauchten. Jetzt waren wir im wahrsten Sinne des Wortes wohlgerüstet. Und König Erginos beging weitere Fehler. Statt dass er die Stadt verrammelte und sie als Festung benütze, wählte er, uns auf offenem Feld entgegenzutreten. Wohl hatte er gut doppelt so viele Kämpfer auf seiner Seite, als wir es waren, aber die meisten in seinem Heer waren Greise oder bartlose Jünglinge. Seine schlagkräftigen Männer waren schon bei unserem Hinterhalt gefallen.

Die Schlacht bei Orchomenos dauerte nicht länger als zwei, drei Stunden. Da fiel Erginos selbst und der Rest ergab sich. Wir garantierten ihnen freien Abzug aus der Stadt im Laufe des Nachmittags - bis zum Einbruch der Dunkelheit würden wir Waffenstillstand halten und auch keine Gefangenen nehmen. Sie durften Lebensmittel und persönlichen Besitz in jeder Menge aus der Stadt mitnehmen, aber keine Wertgegenstände. Wir stellten bei jedem Stadttor Wachen auf, um den Abzug zu kontrollieren. Und bei denen, die zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht aus der Stadt draußen waren, drückten wir beide Augen zu. Es gab auch keine ernsteren Zwischenfälle, sofern ich weiß.

Am späten Abend waren wir schließlich allein in der Stadt. Wir schlossen die Tore, stellten dort auch neue Wachen auf und brachten von den in der Stadt gebliebenen Rindern den Göttern ein Opfer am Marktplatz. Natürlich wurde auch der eine oder andere Weinkeller geleert, denn das Feiern nahm die ganze Nacht in Anspruch.

Die zwei nächsten Tage brauchten wir, um alles zu durchsuchen und alle Wertgegenstände als Kriegsbeute am Marktplatz aufzustapeln. Die Reichtümer, die so zu Tage kamen, erstaunten mich. Andererseits darf man ja nicht vergessen, dass wir selbst gut fünfzig Jahre lang dazu beigetragen hatten, sie anzuhäufen. Also war es eigentlich nicht mehr als billig, dass wir uns zurückholten, was uns gehörte. Am dritten Tag bereiteten wir die Heimreise vor. Bevor wir abzogen, setzten wir noch den Palast in Brand, nicht aus besonderer Bosheit, sondern eher symbolisch gesehen. Leider zündeten wir ziemlich heftig an und als das Feuer dann auf andere Gebäude übergriff, hatten wir weder die Kraft noch den Willen, dagegen anzukämpfen, sodass die ganze Stadt abbrannte...

Jetzt, da wir unser Lager für die Nacht aufgeschlagen haben, etwa eine halbe Tagesreise entfernt von dem, was einmal Orchomenos gewesen ist, sehe ich dort am Horizont noch immer den Rauch aufsteigen. Die Kriegsbeute hat mir ein kleines Vermögen beschert, aber ich glaube, dass es im Leben größere Werte gibt. Deshalb werde ich davon einen Tempel bauen lassen, daheim in Theben, zu Ehren meines "richtigen" Vaters, Zeus, als Dank dafür, dass wir in diesem Krieg den Schutz der Götter gehabt haben. Als Anführer dieser Horde habe ich von ihnen auch viele Ehrenbezeigungen bekommen - und sicher, das ist sehr schmeichelnd, aber es ist auch unverdient, denn jeder, der im Kampf sein Bestes gegeben hat, ist genau so viel wert wie ich.

Ich fühle mich, wie schon gesagt, ausgebrannt und sogar ein wenig schuldig, trotz unseres Sieges, der für Theben natürlich wichtig ist und nicht verringert werden soll. Aber hätte ich diesen Krieg nicht heraufbeschworen, wären Amphitryon und viele, viele andere noch am Leben - und was könnte wohl das aufwiegen?


© Bernhard Kauntz, Västerås 1999


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