DAS TAGEBUCH DES HERAKLES
Ein ehrenvoller Auftrag
Heute bin ich in den Wald gegangen, um uns für das Mittagessen einen Hasen zu schießen und ich war nach der Jagd schon auf dem Heimweg, als ich auf eine Lichtung hinaustrat. Dort wurde ich von einem stattlichen, jungen Mann angehalten. Ich erkannte ihn gleich wieder, denn das war dieselbe Verkleidung, in der Pallas Athene zu mir gekommen war, als ich in König Kreons Palast eingesperrt war. Erstaunt blieb ich stehen, während der Jüngling auf einen umgeworfenen Baumstamm zeigte und mich aufforderte, Platz zu nehmen. Was ich dann zu hören bekam, ließ mich doch tatsächlich ein paar Mal erschauern.
"Keine Angst, Herakles, ich komme mit Grüßen von deinem Vater", begann die Göttin. "Er hat dich unter all den Sterblichen ausgewählt, um ihm - und allen uns Göttern - zu helfen."
"Was?" Jetzt musste ich wirklich widersprechen. "Wie sollte ich euch helfen können? Wie sollte ich irgendetwas tun können, was ihr nicht hundertmal besser könnt?"
"Nur mit der Ruhe, ich werde es dir gleich erzählen", lächelte Athene. "Aber zuerst muss ich deine Sinne öffnen, sodass du unseren richtigen Anblick ertragen kannst. Dann brauche ich mich auch nicht mehr zu verkleiden, wenn wir miteinander sprechen. Mach jetzt die Augen zu."
Ich gehorchte und spürte, wie sie meine Stirn berührte. Im selben Augenblick begann sich alles in meinem Kopf zu drehen und ich war froh, dass sie mir befohlen hatte, die Augen zu schließen. Aber nach einer Weile blieb mein Kopf stehen und Athene erlaubte mir, die Augen wieder aufzumachen. Ich blinzelte vorsichtig, aber dann riss ich plötzlich die Augen auf so weit ich konnte, als ich sie erblickte. War der junge Mann schon ein schöner Anblick gewesen, sah sie in ihrer richtigen Gestalt tatsächlich göttlich aus - was ja eigentlich kein Wunder ist. Welche persönliche Ausstrahlung! Was für Charisma! Und außerdem in voller Rüstung, genau wie die Statuen in unseren Tempeln sie zeigen. Allein schon der glänzende Helm war ein Wunder. Und da saß auch eine Eule auf ihrer Schulter.... Aber sie ließ mir nicht viel Zeit, sie anzustarren, denn sie sprach gleich weiter.
"Du weißt ja, Herakles, dass unser gemeinsamer Vater seinen Vater und mit ihm den Rest der Titanen, die damals über die Welt herrschten, vertrieben hat, nicht wahr?" Ich nickte und meine Halbschwester (ja, sie war es ja, die das Thema aufgegriffen hatte), erklärte weiter:
"Zeus schickte die alten Götter in den Tartaros, einen Teil der Unterwelt, hinunter, wo sie jetzt festsitzen und nicht ausbrechen können - von ihnen haben wir also nichts zu befürchten. Aber Gaia, die Erdenmutter und unsere Urgroßmutter, ist gar nicht erbaut, dass ihre Enkel ihre Kinder so schlecht behandelt haben. Aber weil sie das nicht ändern kann, versucht sie auf andere Art, ihre Rache zu nehmen. Schon vor den Titanen hatte sie nämlich eine Reihe anderer Kinder geboren - aber eigentlich ist es falsch, sie Kinder zu nennen. Es sind hauptsächlich Ungeheuer, einige haben hundert Arme, ein anderer hat Schlangen als Füße und was weiß ich nicht alles. Sie sind in den Erebos verbannt worden, einen anderen Teil der Unterwelt."
Sie sah mich wieder an, um zu kontrollieren, dass ich das Gesagte auch begriff und als ich nickte, sprach sie weiter:
"Der Jammer ist, dass wir sie dort nicht festhalten können. Und wir wissen, dass Gaia sie gegen uns aufgehetzt hat, dass sie versuchen sollen zu entkommen und uns vom Olymp zu vertreiben. Und jetzt ist es bald an der Zeit. Du hast wohl selbst bemerkt, dass seltsame Dinge geschehen, dass jetzt die Erde oft bebt und dass Flutwellen weit über die Strände hineinrollen. Das ist der Kampf der Giganten um ihre Freiheit, der all diese Verheerungen bewirkt. Und wenn sie wohl einmal ausbrechen, werden sie auf den Olymp stürmen. Das wird ziemlich arg werden."
Sie verstummte und ich sah ja vollkommen ein, dass es kein Plus bedeutete, einen Haufen Ungeheuer auf der Erde herumlaufen zu haben. Aber ich konnte um alles in der Welt nicht begreifen, was das mit mir zu tun haben sollte. Deshalb sagte ich:
"Ich finde, das hört sich fürchterlich an und ich wünsche euch alles Gute, wenn ihr mit den Ungeheuern kämpft. Aber wo würde ich da ins Bild kommen?"
"Ja, siehst du", sagte Athene, "wir haben ein Orakel befragt, wie diese Revolte wohl ausgehen wird. Und die Antwort ergab, dass wir nur gewinnen können, wenn ein Sterblicher in unseren Reihen kämpft. Nur dann werden wir die Giganten vernichten können."
"Ja, aber...", fing ich an, aber sie unterbrach mich.
"Und da hat Vater dich ausersehen. Du sollst uns helfen."
Gut, dass ich schon saß. Ich wusste auch nicht, was ich sagen sollte. Warum gerade ich? Es gibt so viele Helden in unserem alten Griechenland, da hätte mein Schöpfer doch einen anderen aussuchen können? Aber man soll ja seinen Eltern nicht widersprechen, außerdem glaube ich auch nicht, dass es geholfen hätte. Deshalb fragte ich:
"Und wie soll das rein praktisch zugehen?"
"Ganz einfach. Du kommst jetzt mit mir und dann hilfst du uns beim Kampf."
"Nein, nein", protestierte ich, "das geht überhaupt nicht. Ich muss jetzt nach Hause gehen mit dem Mittagessen, die warten ja auf mich. Und dann muss ich ihnen ja auch sagen, wo ich hingehe, damit sie sich keine Sorgen machen."
"Kein Grund zur Unruhe." Meine Schwester wischte meinen Einwurf mit einer Handbewegung fort. "Das erledigen wir. Wir teilen ihnen mit, was sie wissen müssen und wir werden sie auch nicht verhungern lassen. Aber beeile dich jetzt, damit wir weiterkommen. Das Gemetzel kann jederzeit beginnen und wir haben noch ein paar Vorbereitungen vor uns."
Wie um ihre Worte zu unterstreichen wurde plötzlich die Erde von gewaltigen Stößen erschüttert und in der Luft war ein Geheule zu vernehmen, wie ich es mir in meinen ärgsten Träumen nicht hätte vostellen können. Es war also wahrscheinlich am besten, sich in sein Schicksal zu fügen.
© Bernhard Kauntz, Västerås 1999
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