DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Teiresias


"Weißt du, eine Frau erlebt den Geschlechtsverkehr viel intensiver als ein Mann, deshalb braucht ihn ein richtiger Mann öfter, und außerdem braucht er ab und zu ein bisschen Abwechslung."

Ich erwachte mit einem Ruck. Das war ohne Zweifel die Stimme meines Vaters gewesen, die konnte man nicht verwechseln. Es hörte sich an, als ob er bei mir im Zimmer stand, aber das tat er nicht, denn hier war niemand außer mir. Aber jetzt hörte man eine Frau, die ziemlich empört war:

"Ach, du suchst doch nur nach einer Entschuldigung für all deine Abenteuer. Du glaubst wohl, dass du dich benehmen kannst, wie es dir passt! Aber ich habe dich gesehen, als du neulich in den Olymp zurückgeschlichen bist. Man hat dir das schlechte Gewissen richtig angesehen. Bei wem warst du denn dieses Mal? Und übrigens, was meinst du damit, dass es eine Frau viel intensiver erlebt? Was ist das wieder für Unsinn?"

Die Stimmen kamen anscheinend aus dem Zimmer nebenan und die zweite musste Heras sein, die meinem Vater wieder eine Szene machte. Aber komisch, dass man das so gut hören konnte, ich hätte nicht gedacht, dass sie im Olymp so dünne Wände hatten.... Aber man weiß ja nie. Vielleicht hatte Hera hier und dort ein paar Lauschgänge einbauen lassen, um meinen Vater besser überwachen zu können, und hier war eine Mündung. Jetzt hörte ich wieder Vater brummen:

"Ja, aber das ist doch selbstverständlich. Ein Frauenzimmer braucht doch nur die Beine in die Luft zu strecken und zu genießen, während der Mann die ganze Arbeit erledigt."

"Jaja, aber das bildest du dir nur ein, dass man nur die Beine in die Luft streckt. Dass keines von deinen Weibern dir erzählt hat, dass auch ein paar Finessen dazugehören." Der Spott troff förmlich aus der Stimme Heras.

"Finessen hin, Finessen her... Da haben wir es ja wieder. Auf wie viele unnötige Spielereien sich ein Mann einlassen muss, nur um es euch recht zu machen. Kuscheleien und Vorspiel und Kerzenschein und was weiß ich nicht noch alles, an das man denken muss, weil sonst bekommt ihr Kopfweh und gute Nacht. Ein Mann braucht keine Finessen, da geht es einfach drauf los, ohne Zicken."

"Vielleicht könntet ihr Männer auch intensiver erleben, wenn ihr euch ein bisschen mehr Zeit für Gefühle nehmen würdet. Aber bei euch geht es ja nicht um Qualität, da zählt ja nur die Quantität. Und ganz abgesehen davon....ich wette, dass es ein Mann im Bett genauso gut hat, wie eine Frau."

"Naja, darauf kannst du leicht wetten." Das Gelächter von Zeus erfüllte das ganze Zimmer. "Es gibt ja keine Möglichkeit, das Gegenteil zu beweisen. Aber - Augenblick. Es gibt doch jemand, der das beurteilen kann. Du kennst doch auch Teiresias. Er hat ja sowohl als Mann als auch als Frau gelebt, er müsste das ja wissen. Gehst du darauf ein, dass wir ihn entscheiden lassen?"

"Ja, da hast du recht.... Das könnten wir tun. Schon allein um dir deine Sprüche abzugewöhnen. Ich gebe gleich Iris Bescheid, dass sie ihn holen soll. Schau, ist er das nicht, da unten auf der Landstraße?"

Ich hörte eine Tür ins Schloss fallen.

Ich hatte schon davon gehört, dass Teiresias sowohl Mann als auch Frau gewesen sein sollte, aber eigentlich hatte ich nie an diese Geschichte geglaubt. Man sagt, er sei einmal im Wald spazieren gegangen, als er zu einer Stelle kam, an der zwei Schlangen lagen und sich paarten. Wie alle wissen, dauert das Stunden, bevor sie fertig sind. Teiresias hätte sicher ausweichen können, ohne sie zu stören, aber er stieß sie mit seinem Stock zur Seite. Und als die Schlangen dann angriffen, tötete er das Weibchen. Im selben Augenblick wurde er selbst zur Frau verwandelt.

Jetzt hörte ich durch die Wand, dass Hera zurückkam und bekanntgab, dass Iris unterwegs war und dass es jetzt nicht mehr lange dauern würde, bis sie Zeus beweisen konnte, dass er nur eine Menge Unsinn redete, nur weil er für seine Liebesgeschichten Ausreden brauchte.

Andererseits, wenn sogar die Götter die Geschichte von Teiresias als wahr anerkannten, dann musste sie wohl stimmen. Und natürlich musste er in dem Fall auf diesem Gebiet auch Fachmann, beziehungsweise Fachfrau sein.... Auch wenn er jetzt wieder ein Mann war. Denn mehrere Jahre später passierte es, dass Teiresias (oder ob er damals vielleicht nur Teiresia hieß?) als Frau wieder auf demselben Weg spazierte, und wieder lagen zwei Schlangen dort, mit derselben Beschäftigung wie das vorige Mal. Teiresias sah dies als Wink des Schicksals und erschlug diesmal die männliche Schlange. Und tatsächlich befand er sich seitdem wieder in einem männlichen Körper, so wie es die Natur von Haus aus vorgesehen hatte.

Dieser Mann schien jetzt ins Zimmer zu kommen, wo dieses sich auch immer befinden mochte. Anscheinend war er ein wenig scheu und vor Ehrfurcht ergriffen, als er plötzlich vor den Göttern stand, denn ich hörte, wie Vater ihn zu beruhigen suchte, bevor er zum eigentlichen Thema kam:

"Und weil du der Einzige bist, der die Möglichkeit gehabt hat, während des Geschlechtsverkehrs die Gefühle beider Partner zu empfinden, so bist du auch der Einzige, der diese Fragestellung entscheiden kann. Lass dir jetzt Zeit und überlege deine Antwort, bevor du sie uns teilgibst."

Teiresias musste ziemlich sicher gewesen sein, denn er brauchte keine Zeit zum Nachdenken. Er antwortete fast sofort.

"Das ist eine ziemlich leichte Frage. Wäre es nur darum gegangen, wäre ich ohne Zweifel eine Frau geblieben. Aber ein richtiger Mann schätzt seine Staatsbürgerrechte wohl höher ein, als das Getümmel im Bett, deshalb versuchte ich, wieder mein richtiges Geschlecht zu bekommen, als sich die Chance erbot.

Vielleicht ist es so, dass die Frauen für die männlichen Privilegien in der Gesellschaft auf persönlicher Ebene kompensiert werden, dadurch dass ihr Genuss im Liebesleben ein viel höheres Niveau erreicht, denn so ist es auf jeden Fall, ganz ohne Zweifel."

"Wie kannst Du behaupten...", hörte ich Heras empörten Aufschrei, aber sie wurde gleich von Zeus unterbrochen:

"Wir sollten unseren Schiedsrichter vielleicht fertig reden lassen, mein Liebste. Wir wollten ja erfahren, wie die Sache wirklich aussieht, da müssen wir doch auch einem Experten Glauben schenken, nicht wahr?" Dann bat er Teiresias, in seiner Erklärung fortzufahren.

"Also, wovon ich spreche, ist das Potential", sagte dieser. "Natürlich ist es selbstverständlich, dass man auch als Frau manchmal einen schlechten Liebhaber erwischt und das wirkt sich auch auf das Erlebnis aus. Aber sonst, oh meine Güte..." Teiresias musste sich nach dieser Erinnerung anscheinend eine Weile beruhigen, denn er sprach erst nach einer kurzen Pause weiter:

"Wenn wir uns erst den Gefühlen des Mannes widmen, dann ist es ja so, dass er von dem erregt wird, was er sieht. Erblickt er etwas, das ihm gefällt, ist er sofort bereit, seiner Lust Auslauf zu geben. Sein Genussgefühl steigt dann steil an und erreicht seinen Höhepunkt in einer Explosion, aber ist dann vorbei. Zusammen mit der physischen Anstrengung während des Geschlechtsverkehrs, die der Mann ja meistens auf sich nimmt, bedeutet das, dass er sich nach seinem Erguss müde, ausgepumpt und erschöpft fühlt. Das Resultat davon ist, dass der Mann oft einschläft, sehr zum Verdruss der Frau.

Ein guter Liebhaber lernt es, seine natürlichen Impulse zu bezähmen, sodass sein Höhepunkt nicht zu früh kommt, um das Lustgefühl der Frau zu steigern. Das erhöht jedoch nicht das Eigenerlebnis des Mannes, sondern kann in einigen Fällen sogar ziemlich lästig sein." Erneut folgte eine kurze Pause, bevor Teiresias wieder das Wort ergriff:

"Eine Frau baut ihr Lustgefühl anders auf. Bei ihr ist die Stimmung und der gefühlvolle Aufbau viel wichtiger als der visuelle Eindruck. 'An einem nackten Mann ist wohl nichts Besonderes' ist wohl ein Ausdruck, den im Laufe der Jahre schon manch eine Frau gefällt hat. Die Statuen, die wir erzeugen, stellen ja nackte Männer dar, aber die sind von Männern für Männer gemacht. Leider können wir keine nackten Frauen auf Statuen darstellen, denn dann würde es gleich heißen, dass es die wichtigste Aufgabe jeder Frau sei, diesem Schönheitsideal mit allen Mitteln nachzukommen, und so weiter. Irgendjemand würde sicher auch behaupten, dass man die Frauen nur ausnütze.... Aber jetzt komme ich vom Thema ab.

Die Stimmung ist also für die Frau wichtig, sie baut ihre Lust vom allerkleinsten Beben an auf, das ihren Körper durchläuft, wenn sie fühlt, dass es ihr gefallen würde, hier und jetzt ein sexuelles Erlebnis zu haben. 'Jetzt' ist dabei ein dehnbarer Begriff, es kann sich genauso gern um ein paar oder mehrere Stunden später drehen. Wichtig ist jedoch, dass ihr Partner es versteht, auf diese erste Andeutung aufzubauen, sei es durch einen Blick, eine Geste oder eine leichte Berührung zum richtigen Zeitpunkt. Da kann sich dieses kleine Beben verstärken und zu einer Vibration werden. Gibt es dann auch noch Kerzenschein und am besten auch einen ordentlichen Strauß Blumen in der Nähe, wirkt sich auch das positiv aus. Nicht so sehr, weil sie diese Dinge begehrt, sondern weil sie fühlen will, dass sie um ihretwillen da sind. Die Kerzen können natürlich auch durch einen Brillantring ersetzt, oder noch besser natürlich, ergänzt werden." Teiresias räusperte sich, bevor er weitersprach:

"Auch hier ist nicht der Wert an sich wichtig, wie der arme Mann oft glaubt, sondern es ist so, dass, je mehr der Schmuck gekostet hat, desto mehr meint die Frau, dass der Mann sie schätzt, sonst hätte er nicht so viel dafür ausgegeben. Der eigentliche Geldwert jedoch ist für die Frau sekundär, denn die Finanzen fallen ohnehin in seinen Aufgabenbereich.... Aber ich verliere schon wieder den roten Faden. Was ich sagen wollte, ist, dass all dieses Drumherum die Lust der Frau ansteigen lässt, sodass sie jetzt bald zum nächsten Schritt bereit ist, bei dem der direkte Körperkontakt ins Spiel kommen kann.

Dieser darf jedoch keineswegs zu tollpatschig oder zu direkt sein. Ihr die Kleider vom Körper zu reißen - was der Mann ja eigentlich tun will, damit er sie endlich betrachten kann - würde ihn nur allzu schnell zum Ausgangspunkt zurückführen. Günstig ist es oft, wenn man zu dieser Verführungsberührung ein wenig Musik spielt. Aber um alles in der Welt kein Schlagzeugsolo, wie es der Mann jetzt in seinen Adern spürt, nein, es muss romantisch sein und die Berührung darf gern in der Form eines Tanzes geschehen. Kann der Kavalier während dieser Phase vorsichtig die Nadeln lösen, die ihre Kleidung zusammenhalten, lässt sie das gerne zu. Aber dann gilt es wieder, nur nicht seinen eigenen Gefühlen nachzugeben und sie anzustarren, denn da fühlt sie sich wie ein Sexobjekt. Wehe jedoch, wenn dieser besondere, anbetungsvolle Blick ausbleiben sollte, den sie erwartet, das würde einen ernsten Abbruch in ihrer Luststeigerung bedeuten.

Ich sah vor mir, wie mein alter Herr dort saß und dieser Ausführung schmunzelnd folgte, während Hera, vor Zorn kochend, sich kaum noch im Zaum halten konnte. Recht geschah ihr, diesem Zankweib. Aber meine Gedanken wurden schnell wieder von Teiresias Worten gebannt.

"Das Problem ist, dass sie sich eigentlich wie ein Sexobjekt fühlen will, aber - mit Verlaub - um Gottes Willen nicht als solches angesehen werden will. Das verlangt vom Liebhaber einen äußerst gefühlvollen Balanceakt, in einer Lage, in der der Unerfahrene schon Schwierigkeiten hat, seine eigene, frühzeitige Auslösung zu bekämpfen....

Aber jetzt kann man sich wenigstens dem Bett nähern. Aber nur mit der Ruhe, denn jetzt soll der rein körperliche Teil des Vorspiels beginnen. Einmal in die Brust und dann in den Hintern zu zwicken, genügt nicht, das wäre allzu unsophistikiert und führt unweigerlich zu einem: 'Nein, heute nicht, ich bin so müüüde', allen früheren Anstrengungen zum Trotz. Fährt man dagegen fort, die weibliche Lust aufzubauen - und hier will ich nicht auf alle variationsreichen Details eingehen - dann kann auch der Mann bald Hoffnung schöpfen. Und gelingt es ihm, das Ganze einigermaßen im selben Takt wie sie abzuschließen, dann besteht eine echte Möglichkeit, dass er die nächsten Wochen nicht auf Eis gelegt wird. Aber dann darf er nachher wirklich nicht einschlafen. Denn genauso, wie die Frau ihren Höhepunkt langsam aufbaut, so klingt er bei ihr auch viel langsamer wieder ab.

Und aus all dem kann man doch schließen, dass die Lust der Frau vielfach größer ist, als die des Mannes."

Teiresias verstummte, der Richter hatte gesprochen. Im nächsten Moment kam die kalte Stimme Heras:

"Bist du jetzt fertig?" Jeder einzelne Buchstabe troff voller Säure, die sich tief in die Seele des armen Mannes eingeätzt haben musste. Vermutlich nickte er, den Hera sprach weiter:

"Du meinst also, dass die visuellen Eindrücke des Mannes dem Stimmungsaufbau der Frau entgegengesetzt sind, und dass die Frau deshalb mehr vom Liebesleben hat?"

"Ja, ungefähr so." Teiresias Stimme hörte sich jetzt ein wenig unsicher an, zweifelnd. Die von Hera dagegen war rasend, sie schrie:

"Da verdamme ich dich jetzt zu Blindheit für den Rest deines Lebens, dann brauchst du nichts mehr zu sehen und kannst so besser genießen!"

Mir lief es kalt über den Rücken. Das durfte sie doch nicht tun! Anscheinend verfolgte sie nicht nur mich mit ihren Ungerechtigkeiten.... Zusammen mit dem jämmerlichen Klagen von Teiresias, hörte ich nun auch die vorwurfsvolle Stimme meines Vaters:

"Aber, Hera, was hast du getan? Du...du kümmerliches Weib, du bist es nicht wert, ein Gott zu sein. Verschwinde nun sofort aus meinem Anblick!" War Heras Stimme neulich kalt gewesen, war die des Zeus jetzt eisig, aber gleichzeitig so voller Kraft, dass keine lebende Seele es gewagt hätte, ihm zu trotzen. Als Hera gegangen war, wandte sich Zeus an den Blinden:

"Das tut mir leid, Teiresias, das wollte ich nicht. Du solltest natürlich keinesfalls bestraft werden, weil du unseren Steit schlichtetest. Leider kann ich es nicht ungeschehen machen und dir dein Augenlicht wiedergeben, aber ich kann versuchen, den Schaden ein wenig zu vermindern. Ich kann dir ein inneres Sehen verleihen, oder einfach ausgedrückt, dich zum Seher machen. Magst du deinen Verlust durch diese Gabe ersetzen, so gut es dir gelingt. Komm jetzt, ich werde dich persönlich zur Erde hinuntergeleiten."

Nun wurde es still, sie mussten gegangen sein. Ich sehe, dass es jetzt nicht mehr so viel Sinn hat, noch weiterzuschlafen, die Großversammlung fängt in einer Weile schon an. Ich werde lieber sehen, ob ich irgendwo Hebe finden kann, vielleicht können wir dann nebeneinander sitzen.


© Bernhard Kauntz, Västerås 1999


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