DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Tantalos und Pelops


Was ich nicht leiden kann, ist auf etwas zu warten. Außer meinem schlechten Traum war die Nacht ruhig gewesen und ich erwachte ausgeruht und voller Energie. Die Ambrosia musste tatsächlich über lange Zeit wirken, denn ich war überhaupt nicht hungrig, wie sonst am Morgen. Kein Wunder, dass die Götter nur einmal am Tag aßen.

Aber wenn ich auch keinen Hunger verspürte, fühlte ich mich rastlos. Was sollte ich nur anfangen? Wir konnten überhaupt nichts tun, bevor die Giganten sich befreit hatten und bis dahin gab es nur eines, nämlich zu warten, wie sehr ich das auch verabscheuen mochte. Ich beschloss, dass ich einen neuen Rundgang durch den Olymp machen würde, vielleicht hatte ich schon so viel gelernt, dass ich mich nicht wieder verlaufen würde, wie gestern.

Eigentlich ging es recht gut, sich zu orientieren. Auf den Gängen und den Wänden, die letztes Mal noch ganz gleich ausgesehen hatten, sah ich jetzt kleine Zeichen und Eigenheiten, die man als Orientierungshilfe verwenden konnte. Ich suchte Hebe nicht willentlich, weil ich mich nicht aufdrängen wollte, aber ich gebe gern zu, dass irgendwo eine Hoffnung bestand, dass ich vielleicht zufällig auf sie stoßen könnte.

Aber kaum war ich an der Nische vorbeigegangen, die in der Nähe des großen Saales lag, in dem wir gestern die Versammlung gehabt hatten, stieß ich auf Alpheios und Notos, die auf einer Bank diskutierten. Alpheios war ein Flussgott, ich erinnerte mich, dass mir das Hebe gestern erzählt hatte. Und tatsächlich passte sein Aussehen mit dem gewellten Haar und der hautengen Tunika gut zu einem Flussgott. Notos kannte ich seit früher, auch er war von Feuchtigkeit umgeben, obwohl er ein Windgott war. Aber er war ja der Gott des Südwindes, der die Regenwolken vom Meer übers Land hineintrieb, daher war es nur natürlich, dass auf seiner runden Stirn und auf der haarlosen Brust Wassertropfen glänzten.

Ich hatte zuerst keinen Gedanken daran, stehenzubleiben, aber im Vorbeigehen hörte ich, dass sie über die Bestrafungen sprachen, die Zeus verhängte. Notos war der Ansicht, dass sie oft zu streng ausfielen, sodass sie teilweise sogar an dem kommenden Aufstand schuld seien. Alpheios dagegen meinte, dass eine Strafe hart sein müsse, um ein abschreckendes Beispiel zu sein. Er erinnerte daran, dass Zeus auch seine eigenen Kinder hart bestrafte, wenn es nötig war. Er führte Apollo als Beispiel an, der auf der Erde zu Strafarbeit verdammt gewesen war, aber nicht zuletzt auch Tantalos, der ja seine Qualen ewig erdulden musste.

Ich wusste, dass er sich im Tartaros befand, wo er bis zum Hals im Wasser stand, das sich aber jedesmal zurückzog, wenn er sich niederbeugte, um zu trinken. Genauso war es mit den Zweigen voller köstlichen Früchte, die über seinem Kopf hingen. Wenn er sich danach streckte, wichen sie sofort zurück, sodass er ewigen Hunger und Durst erleiden musste. Aber ich hatte keine Ahnung, warum er diesen fürchterlichen Qualen ausgesetzt war.

Ich benützte die kurze Pause, in der Notos seine Gegenargumente sammelte, um danach zu fragen.

"Naja, dieser Tantalos war ja wirklich nicht der tugendhafteste Sprössling des Zeus", anwortete Alpheios und zwinkerte mir zu. "Zunächst war da dieser Skandal, als er in den Olymp eingeladen worden war und als Dank Nektar und Ambrosia stahl und auf die Erde hinunter mitnahm. Ich erinnere mich, dass es damals zwar ein großes Palaver gab, aber er kam ohne Strafe davon."

"Siehst du, das ist es, was ich meine", wandte er sich an Notos. "Hätte man diese Untat auf einmal bestraft und ihn wissen lassen, was richtig und falsch ist, dann wäre die zweite, abscheuliche Tat überhaupt nicht geschehen."

"Aber man kann doch niemand wegen ein bisschen Nektar und Ambrosia in alle Ewigkeit verdammen", antwortete Notos empört.

"Das habe ich ja auch nicht gesagt", erwiderte Alpheios heftig, "aber auch eine kleinere Strafe zu dieser Zeit hätte ihn wissen lassen, dass es Regeln gibt, die befolgt werden müssen."

"Es gibt keine Strafe, die vorbeugend wirkt", gab Notos zurück "Sondern..."

Aber weil ich einsah, dass sich die beiden schon wieder in ihre eigene Diskussion vertieften und ich auf diese Art nie die Antwort auf meine Frage bekommen würde, mischte ich mich wieder ein:

"Aber was hat er denn getan, das so schrecklich ist?"

"Ja, weißt du, was er getan hat, das war wirklich recht abscheulich." Jetzt hatte Notos die Erklärung übernommen. "Es geschah viel später und man hatte wohl seinen Diebstahl fast vergessen. Wie auch immer, die Götter waren ihm nicht mehr so böse, dass sie ihn nicht in seinem Königreich in Sipylos, in Lydien, besuchten. Das war gerade zu der Zeit, als Demeter todtraurig war, weil sie Persephone nicht finden konnte. Aber Tantalos, der Trottel, musste die Götter wieder herausfordern. Er glaubte nicht, dass die Götter wirklich allwissend sind, und wollte sie auf die Probe stellen. Da fiel ihm nichts Besseres ein, als Pelops, seinen eigenen Sohn, zu schlachten und den Göttern als Ragout vorzusetzen. Natürlich merkten die Götter sofort, was gespielt wurde, außer Demeter, die ganz in ihren Gedanken verloren war und einen Bissen in den Mund stopfte. Für diese schändliche Tat musste er natürlich eine Strafe bekommen, das bestreite ich ja gar nicht", wandte Notos sich an seinen Streitbruder.

Weil ich aber sofort einsah, dass das wieder zu neuen Streitereien führen konnte, warf ich schnell ein:

"War Tantalos nicht auch der Vater von Niobe?"

"Ganz richtig", nickte Notos. "Er war auch der Vater dieser Angeberin, die glaubte, Leto ausstechen zu können, weil sie mehr Kinder hatte, aber ganz vergaß, dass die Kinder der Leto Apollo und Artemis hießen...."

"Genau, und ist in einer Familie ein Wurm drinnen, dann wirkt sich das über mehrere Generationen hinweg aus. Das kann man oft sehen", gab Alpheios überraschenderweise zu. "Man braucht sich nur Pelops selber anzusehen, der ja auch gerade kein Vorbild war, obwohl vor allem Poseidon ihn gern mochte und versuchte, ihm im Leben zu helfen."

"Aber...", wandte ich ein, "ich dachte, ihr habt gerade gesagt, dass man ihn getötet hatte."

"Ja, natürlich, aber die Götter gaben ihm das Leben zurück." Jetzt war es wieder Notos, der das Wort führte. "Die konnten das meiste wieder zusammenstückeln, nur ein Stück der Schulter mussten sie mit Elfenbein ersetzen, nämlich das Stück, das Demeter verzehrt hatte.
Aber ich finde nicht, dass das unbedingt der ganzen Familie gelten muss", sagte er zum Flussgott neben ihm. "Es gibt viele Beispiele, in denen die Kinder sich gesittet betrugen, auch wenn ein Elternteil aus dem Rahmen fiel."

Ach, schon wieder! Ich überlegte ernstlich, weiterzugehen und die beiden Götter ihrem Gezänke zu überlassen, aber ich wollte auch gern wissen, was aus Pelops geworden war und warum sie meinten, dass er nicht anständig gewesen wäre, er, der doch einer ganzen Halbinsel seinen Namen gab.

"Die Peloponesos hat doch ihren Namen nach Pelops bekommen, nicht wahr", fragte ich also weiter.

"Ja, das stimmt", antwortete Alpheios. "Aber weißt du, anfangs war ja alles eitel Wonne. Die Götter umsorgten ihn, als sie seinen Vater in den Tartaros verbannt hatten, wo er seine Qualen erdulden musste. Pelops führten sie von Lydien nach Griechenland. Poseidon hatte ihn besonders gern, er schenkte ihm einen goldenen Wagen mit herrlichen Pferden, und lehrte ihn, diesen zu lenken. Aber dann, als Pelops erwachsen war, traf er Hippodameia und verliebte sich in sie. Ihr Vater, Oinomaos, war König von Elis. Ein Orakel hatte ihn gewarnt, dass der kommende Gatte seiner Tochter ihn ums Leben bringen würde. Logischerweise versuchte er, ihre Hochzeit zu verhindern. Er hatte selbst eine gute Hand mit Pferden und besaß auch das schnellste Gespann der Gegend. Die Pferde waren so schnell, dass manche sogar davon sprachen, dass sie wohl verzaubert wären. Deshalb hatte Oinomaios die Willkür gesetzt, dass nur der, der ihn in einem Wagenrennen schlug, die Hand seiner Tochter bekommen würde. Zwölf Freier hatten schon den Versuch gewagt, waren aber alle gescheitert. Aber auch Pelops nahm diese Herausforderung an."

Alpheios verstummte und weil Notos gar keinen Einwand vorbrachte, konnte der Flussgott nach einer Weile wieder das Wort ergreifen.

"Hier geschah die erste böse Tat des Pelops. Er bestach Myrtilos, den Pferdeknecht des Königs, dass er die Nägel in der Nabe der Räder mit Wachsnägeln ersetzen solle. Diese schmolzen dann natürlich während des Rennens, sodass Oinomaos hinter seinem Gespann zu Tode geschleift wurde. Danach konnte Pelops seine große Liebe heiraten. Aber jetzt kommt die große Gemeinheit in der Geschichte: statt Myrtilos zu entlohnen, wie er es versprochen hatte, wollte Pelops den einzigen Zeugen seiner Untat beseitigen. Unter dem Vorwand, ihn dort zu bezahlen, lockte er Myrtilos auf einen hohen Felsen hinauf und stürzte ihn von dort ins Meer hinunter. Seither hat das Myrtoische Meer seinen Namen. Aber während Myrtilos dem Tod entgegenstürzte, verfluchte er Pelops und seine Nachkommen. Es bleibt ja abzuwarten, welche Auswirkungen das auf Atreus und Thyestes haben wird, aber man sieht jetzt schon einige dunkle Wolken am Horizont..."

"Ach, das bildest du dir doch nur ein", meldete sich der Windgott wieder, der jetzt lange genug geschwiegen hatte. "Du siehst alles nur schwarz, obwohl du genau weißt, dass Pelops trotz seiner Missetaten ein langes Leben beschert wurde. Er vollbrachte ja auch ein paar gute Werke. In seiner Zeit als König hat er ja zum Beispiel auch die olympischen Spiele gegründet."

"Das nennst du eine gute Tat?" Alpheios schaute seinen Widersacher erbost an. "Die Spiele wurden als Erinnerung an ein Ereignis gestiftet, dem Betrug und Bestechung zugrunde lagen - die Zukunft wird wohl zeigen, ob sich das nicht wiederholen wird....."

Ich hörte noch, dass Notos natürlich einen Einwand vorbrachte, aber ich hörte nicht mehr, was er sagte, denn jetzt hatte ich endgültig genug von ihnen und ging weiter.


© Bernhard Kauntz, Västerås 1999


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