DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Theseus


Hylas ist ein aufgeweckter und fröhlicher Junge für sein Alter. Er ist vielleicht nicht allzu theoretisch begabt, aber seine Art und nicht zuletzt sein Aussehen machen einen großen Teil dieses Mankos wett. Es fällt mir schwer, einen Jungen als schön zu bezeichnen, weil ihm das gern einen etwas femininen Anstrich gibt, aber Hylas ist wirklich schön. Seine glänzenden, schwarzen Haare umrahmen ein Antlitz mit einem entschlusskräftigen Mund und einer klassischen Nase, in dem auch zwei dunkle Augen wie lebensfrohe Feuer brennen.

Es tut mir wirklich leid, dass ich seinen Vater getötet habe, denn manchmal sieht man einen Zug von Schwermut über sein schönes Gesicht gleiten, was ja auch ganz logisch ist. Man merkt es nicht sehr oft und es geht schnell vorüber, aber es ist, wie wenn ein leichter Schatten ab und zu die jugendliche Freude verdunkelte.

Ich hoffe, dass kommende Generationen eines Tages bessere Lösungen dafür finden werden, wie sie ihre Konflikte beilegen können, als aufeinander einzuhauen. Aber es werden sicher noch viele Jahrtausende vergehen, bevor dieses aggressive Benehmen verschwunden ist - wenn überhaupt jemals. Außerdem muss auch zuerst die Schlechtigkeit selbst aus dem Sinn der Menschen verschwinden, sodass sie nicht von Haus aus die Gewalt provoziert....

In diesem Fall war es reine Selbstverteidigung meinerseits, auch wenn das nichts an dem tragischen Ergebnis verändert. Ich war mitten im Kampf über eine Wurzel gestolpert, die aus dem Boden herausragte, und war nach vorne gefallen, sodass meine Keule in weitem Bogen davonflog. Und als ich wieder auf die Beine kommen wollte, verfing ich mich irgendwie mit dem Fuß, sodass ich nicht freikommen konnte. Ich sah König Thiodamandus erst als es schon fast zu spät war. Er kam in rasendem Tempo auf mich zu, die Lanzenspitze gerade auf mein Herz gerichtet. Ich hatte kaum Zeit, ihm einen Pfeil entgegenzusenden, die einzige Verteidigung, die mir noch blieb. Aber auch in bedrängten Lagen bin ich ein zu guter Schütze, um danebenzuschießen.

Ich spielte diese Szene in meiner Erinnerung durch, während wir auf der Landstraße nach Athen einherzogen, als Hylas meine Gedanken plötzlich unterbrach.

"Diesen Theseus", sagte er, "den du überreden sollst, mitzukommen, kennst du ihm schon lange?"

"Ihn", verbesserte ich, denn die Grammatik war keine von Hylas Stärken, wie sehr ich mich auch bemühte, sie ihm zu erklären.

"Was ihn?" Zwei unschuldige Augen sahen mich an, wie um zu zeigen, dass er mich nicht aufziehen wollte, sondern dass er wirklich nicht verstand, um was es ging.

"Es heißt 'ihn', nicht 'ihm'. Kennst du ihn schon lange", erklärte ich zum elfundsiebzigsten Mal, bevor ich die Frage beantwortete.

"Ja, wir kennen einander schon eine ganze Weile. Wir denken und handeln ziemlich ähnlich, vermutlich verstehen wir einander deshalb auch so gut."

"Hat Theseus auch einen Gott als Vater", wollte Hylas jetzt wissen.

"Nein, das nicht, aber er ist auch nicht von schlechten Eltern", scherzte ich. "Sein Vater hieß Aigeus und war König von Athen. Seine Mutter ist Aithra, die Prinzessin von Troizen, wo Theseus auch aufwuchs. Aigeus war wieder nach Athen zurückgekehrt, bevor sein Sohn noch geboren worden war. Aber bevor er wegfuhr, versteckte er seine Sandalen und sein Schwert unter einem mächtigen Felsen. Er bat Aithra, Theseus nicht zu verraten, wer sein Vater sei, bevor er nicht ohne Hilfe diesen Felsen wegrollen konnte. Theseus war aber ein starker, junger Mann, der schon im Alter von nur 16 Jahren dafür Kraft genug hatte."

"Aber warum ist Aigeus nicht in Troizen geblieben, oder warum hat er Aithra nicht nach Athen mitgenommen. Das verstehe ich nicht." Hylas stieß mit dem Fuß einen Stein vom Weg, schlug sich dabei aber seine Zehen an, nach seiner Grimasse zu urteilen.

"Nun, das hat auch wieder seinen Grund", erzählte ich ihm. "Ein Orakel hatte Aigeus nämlich verraten, dass sein Sohn ihn einmal das Leben kosten würde. Und weil Aigeus teils gern noch eine Weile leben wollte, teils aber auch sicher sein wollte, Theseus zu sehen, wenn dieser schon erwachsen war, zog er es vor, nicht in der Nähe des Jungen zu sein."

"Und ist es wahr", fragte Hylas.

"Was ist wahr?"

"Dass Theseus seinen Vater ums Leben brachte."

"Ja, leider", entgegnete ich. "Das geschah als Theseus von Kreta zurückkam, wo er den Minotaurus besiegt hatte. Aigeus glaubte, dass Theseus nicht mehr am Leben sei und stürzte sich selbst ins Meer. Das Ägäische Meer trägt daher jetzt seinen Namen. Aber genau wie es passierte, weiß ich nicht, ich habe Theseus seither nicht mehr getroffen und ich bin selber schon neugierig, zu erfahren, wieso und warum. Vor allem aber möchte ich hören, wie er den Minotaurus bezwingen konnte."

Wir gingen eine Weile schweigend weiter. Dann fragte Hylas:

"Und als er das Schwert und die Sandalen gefunden hatte? Was geschah dann? Zog Theseus gleich nach Athen, um seinen Vater zu suchen?"

"Ja." Ich nickte, wieder in Erinnerung versunken. "Damals trafen wir uns zum ersten Mal. Ich hütete damals die Rinder von Amphitryon, als Theseus vorbeigezogen kam."

"Wieso? Theben liegt doch nicht auf dem Weg von Troizen nach Athen?"

"Nein, das nicht. Aber erstens war ich selbst unterwegs, weil mich das ewige Rinderhüten nervte, und zweitens zog Theseus auch nicht schnurstracks dahin, sondern wollte Land und Leute kennenlernen. Auf dem Weg befreite er das Land auch von ein paar Räubern und Bösewichten."

"Ja? Wirklich? Erzähl doch!" Die schönen, dunklen Augen des Jungen leuchteten auf.

"Ja, mein Gott", seufzte ich. "Da fragst du am besten Theseus selbst. Ich kann mich an all das nicht mehr so genau erinnern. Ich weiß aber noch, dass er Periphetes erschlug, weil er dann die eherne Keule des Wegelagerers selbst benützte. Sinis, vom Isthmos von Korinth war ein anderer, übler Bursche, der seine Opfer von Bäumen auseinanderreißen ließ."

"Von Bäumen?" Hylas staunte. "Wie machte er das?"

"Das war ziemlich grausam", fuhr ich fort. "Sinis konnte mit seiner ungewöhnlichen Kraft ganze Bäume umbiegen. Dann band er seine Opfer an je zwei Baumwipfeln, und wenn die wieder hochschnellten, dann...."

"Pfui Teufel", meinte Hylas entrüstet. "Gut, dass solche Unholde ausgerottet werden."

"Ausgerottet werden sie wohl nie", widersprach ich. "Es kommen immer wieder neue. Sadisten, denen es Spaß macht, die Angst der anderen zu erleben, oder Terroristen, die kein Mittel scheuen, um an ihr Ziel zu gelangen. Und besonders traurig wird es, wenn solche Menschen an die Macht kommen, sei es durch Erbe oder Aufruhr; oder noch schlimmer, durch die Gleichgültigkeit der Umgebung, die nicht rechtzeitig eingreift."

Ich blieb stehen und zeigte auf eine Mulde am rechten Wegrand.

"Ich glaube, dass wir hier übernachten sollten. Die Sonne steht schon tief und hier haben wir ein wenig natürlichen Schutz gegen den Wind. Holz für ein Feuer gibt es auch zur Genüge. Und wenn wir nicht zu spät losgehen, kommen wir morgen noch bis Athen."


© Bernhard Kauntz, Västerås 1999


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