DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Minos und Pasiphae


Schon in dieser ersten Nacht in Athen beschloss Theseus, dass er an der Expedition teilnehmen würde, um, wenn möglich, an Medea heranzukommen. Aber wir blieben noch eine gute Woche in Athen, weil mein Freund alle königlichen Aufträge und Aufgaben verteilten wollte, die während seiner Abwesenheit erledigt werden mussten. Er arbeitete fast rund um die Uhr und hielt die eine Konferenz nach der anderen ab, sodass ich kaum eine Möglichkeit hatte, mit ihm zu sprechen.

Hylas und ich benützten die Zeit, um uns in der Stadt umzusehen, deren Größe uns beeindruckte. Was die Schönheit der Gebäude und den allgemeinen Lebensstandard betraf, stand Theben zwar durch nichts nach, aber die Bevölkerungsanzahl war sicher mindestens doppelt so groß wie daheim.

Eines Tages gegen Mittag kam Theseus zu mir und sagte:

"Jetzt bin ich fertig. Ich will mich nur noch die Nacht über ausruhen, aber dann können wir uns auf den Weg machen, wann immer du willst."

Am nächsten Morgen brachen wir auf und hielten unsere Nasen genau dem Nordwind entgegen.

Wir hatten jedoch kaum die Stadtgrenze hinter uns gelassen, als ich endlich meiner Neugierde nachgab und Theseus aufforderte:

"Jetzt ist es aber höchste Zeit, dass du uns erzählst, wie es dir auf Kreta ergangen ist. Die Gerüchte über deine Heldentaten haben zwar schon jede griechische Stadt erreicht, aber es ist ja etwas ganz anderes, den Helden selbst erzählen zu hören. Außerdem ist es eine ausgezeichnete Art, die Zeit zu vertreiben, während die Schritte einer Landstraße folgen."

"Hm", sagte Theseus. "Da hast du ganz recht. Aber wo soll ich anfangen? Ihr wisst ja, dass Athen jedes Jahr sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen als Tribut nach Kreta liefern musste, die dann dem Minotaurus geopfert wurden."

"Herr Theseus", ließ sich da Hylas vernehmen und ich tauschte schnell einen belustigten Blick mit meinem Freund, als wir die Anrede des Jungen hörten.

"Herr Theseus", sagte er nochmals, "ist es wirklich wahr, dass der Minotaurus von Pasiphae, der Gemahlin von König Minos, geboren wurde?"

"Nun, junger Mann", antwortete Theseus lächelnd. "Ich werde sogleich auf deine Frage zurückkommen, aber zuerst müssen wir eine andere Sache klären...."

Theseus blieb stehen und sein Gesichtsausdruck wurde um eine Spur ernster.

"Es tut gut, deine gute Erziehung wahrzunehmen und deine artige Anrede einem Erwachsenen gegenüber zu hören. Aber jetzt sind wir gemeinsam auf Abenteuer ausgezogen und da sind wir voneinander mehr abhängig und auch gleichberechtigt. Außerdem ist es ziemlich unpraktisch, jemand im Laufe eines Kampfes mit "Herr" anzureden. Stell dir vor, dass du mich vor einer Gefahr warnen willst - da kann diese einzige Silbe den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten. Denn während du "Herr" sagst, können die Pfeile, oder die Lanzenspitzen, vor denen du mich warnen willst, schon viel zu nahe gekommen sein. Deshalb, Hylas, bin ich für dich jetzt und in aller Zukunft nur mehr Theseus."

Mein Kamerad streckte dem Jüngling seine Hand entgegen, die dieser nur zögernd ergriff, während er aus lauter Verlegenheit ganz rot wurde und sich so tief verbeugte, dass er fast mit der Stirn seine Knie berührte.

"Na also", sagte Theseus, nun wieder lächelnd. "Da wäre diese Angelegenheit erledigt. Jetzt können wir auf deine Frage zurückkommen. Aber fangen wir einmal ganz am Anfang an: Als Zeus, in der Gestalt eines Stieres, auf seinem Rücken die Prinzessin Europa nach Kreta geführt hatte, gebar sie ihm drei Söhne, von denen sie den ältesten Minos nannten. Zeus übernahm zu einem Großteil selbst die Erziehung seines Sprösslings und man sagt, dass die Menschheit viele unserer jetzt gültigen Gesetze durch Minos von Zeus erhielt. Denn als Erstgeborener wurde Minos König von Kreta. Und jedes neunte Jahr soll er noch immer Zeus in einer Grotte treffen, wo sie einen Gedankenaustausch vornehmen."

Ich reagierte ein wenig sauer, oder besser gesagt, vielleicht eifersüchtig, denn um meine Erziehung hatte sich mein Vater kaum gekümmert. Und Gedankenaustausch hatten wir bislang auch noch keinen gehabt. Aber dann erinnerte ich mich, wie Zeus mich der Götterversammlung im Olymp vorgestellt hatte, hörte wieder den Stolz, der in der Stimme mitgeschwungen war, und ich fühlte mich dadurch ein wenig getröstet. Inzwischen hatte Theseus weitererzählt.

"Mit der Zeit heiratete Minos einen anderen Abkommen der Götter, nämlich Pasiphae, die ja die Tochter von Helios ist. Und jetzt schien das Glück über das Königreich von Kreta. König Minos regierte das Land weise und mit Umsicht und ließ auch eine Flotte erbauen, sodass Kreta eine bedeutende Seefahrernation wurde. Eines Tages erzählte Minos deshalb dem Meeresgott Poseidon, dass er ihm gern einen Stier opfern würde, aber dass er in seinen Herden kein Tier finden könne, das so frei von Makel sei, dass es also Opfer dienlich wäre. Da schickte Poseidon selbst einen weißen Stier aus dem Meer an Land. Das war wahrlich das schönste Tier, das Minos in seinem Leben gesehen hatte. Aber er schaffte es nicht, an so ein vollkommenes Lebewesen Hand anzulegen, sondern er versteckte den Stier in der eigenen Herde und opferte Poseidon einen anderen."

Theseus blieb stehen und machte einen ordentlichen Zug aus seiner Wasserflasche.

"Man wird recht durstig, wenn man so viel redet", meinte er mit einem schiefen Lächeln, aber er fuhr dann dennoch in seiner Erzählung fort:

"Aber man kann die Götter ja nicht täuschen, das hätte Minos von Anfang an einsehen müssen. Natürlich merkte Poseidon, dass die Stiere vertauscht worden waren und jetzt sann er auf Rache. Und es wurde eine schlimme Strafe, die Poseidon schließlich ausheckte, eine, die nicht nur Minos traf, sondern auch seine Gemahlin und in der Verlängerung auch das Volk und schließlich auch die Bevölkerung von Athen."

"Aber das konnte Poseidon nun wirklich nicht voraussehen", wandte ich ein und musste einen indignierten Blick von Hylas in Kauf nehmen, weil ich die spannende Erzählung unterbrochen hatte.

"Nein, vielleicht nicht", gab Theseus zu, "aber uns spielte das keine größere Rolle, ob es vorhergesehen war oder nicht, es war ein sehr bitteres Schicksal, das vierzehn Familien in Athen jedes Jahr aushalten mussten."

Das war natürlich richtig. Außerdem sah ich in Hylas Gesichtsausdruck, wie seine Irritation immer größer wurde, deshalb beeilte ich mich, einzulenken:

"Aber um für unseren jungen Freund nicht die Spannung zu zerstören, sollten wir vielleicht auch weiterhin die Geschehnisse in ihrer Zeitfolge erzählen."

"Ja, ganz richtig", nickte Theseus und nahm den roten Faden wieder auf.

"Poseidon war also stinksauer auf Minos. Deswegen verzauberte er Pasiphae, sodass sie von einem unstillbaren Verlangen nach dem herrlichen Stier ergriffen wurde, der immer noch auf den königlichen Weiden sein Dasein fristete. Das war natürlich ein großes Problem, sowohl praktisch, als auch gesellschaflich und moralisch. Eine Königin, von allen Menschen, kann ja nicht gern öffentlich kundtun, dass sie den Lieblingsstier ihres Mannes als Liebhaber haben wollte. Sie kämpfte tapfer, aber vergebens. Ihre Lust nach dem weißen Stier wurde immer nur größer, bis sie schließlich kaum noch an andere Dinge denken konnte."

"Entschuldigen, Herr The - entschuldigen, Theseus", verbesserte sich Hylas und sein Gesicht lief wieder tomatenrot an.

"Ich bezweifle natürlich kein einiges Wort davon, aber wie kannst du alle diese intimen Sachen kennen?"

"Gut, Hylas!" Theseus klatschte in die Hände in einem gespielten Applaus. "Mir gefällt das, wenn Leute logisch denken und nicht nur alles einfach hinnehmen, was ihnen erzählt wird. All das habe ich von einer sehr glaubwürdigen Quelle erfahren, nämlich von Ariadne, Pasiphaes Tochter. Aber über sie sprechen wir noch später."

Es ist recht unwahrscheinlich, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man mit einer faszinierenden Tätigkeit beschäftigt ist. Die Akropolis Athens war schon vor einer guten Weile außer Sicht geraten - jetzt stand die Sonne schon fast genau in dieser Richtung, was bezeigte, dass es bald Zeit zum Mittagessen war. Bevor ich das aber noch vorschlagen konnte, hatte Theseus wieder das Wort ergriffen.

"Pasiphae wurde schließlich so benommen von dem Gedanken, sich dem Stier hinzugeben, dass sie ihre Scham überwand und mit Daidalos sprach, einem pfiffigen Kerl, der als Erfinder in Minos Palast angestellt war. Und der schlaue Daidalos fand auch für dieses delikate Problem eine Lösung. Er baute eine sehr hübsche, doch innen teilweise hohle, mechanische Kuh, in der er genau so viel Platz ausgespart hatte, als Pasiphae brauchte, um sich hineinlegen zu können. Dann brauchte man die Kuh ja nur auf einer abgelegenen Wiese aufzustellen und den Stier dazulassen."

Theseus machte wieder eine Pause und ich nahm die Gelegenheit wahr, eine Mittagspause vorzuschlagen. Aber Theseus versprach, dass er nur ein Stückchen weiter einen ganz hervorragenden Rastplatz kannte, wir brauchten nur ein paar Minuten weiterzugehen. Dann fuhr er in seiner Erzählung fort.

"Es geschah so, wie Pasiphae es erträumt hatte, aber im selben Augenblick als die Kuh vom Stier bestiegen wurde, verschwand die Verzauberung, die Poseidon ihr angetan hatte. Jetzt schämte sie sich natürlich noch mehr und verlagte von Daidalos alle Eide der Welt, dass er nie ein einziges Wort darüber verlieren dürfe, was hier geschehen war. Aber es war ohnehin zu spät, wie ihre schwellenden Körperformen bald zeigen würden. Und wirklich bekam sie zum richtigen Zeitpunkt auch einen Abkommen. Aber - es war ein Monstrum, das sie geboren hatte! Während der untere Teil des Neugeborenen aussah, wie der eines normalen Jungen, so hatte dessen oberer Teil genauso unzweideutig dieselben Züge, die ein junges Kalb aufweist."

Theseus zeigte den Weg entlang.

"Jetzt sind wir bald da", sagte er. "Seht ihr die Wegbiegung da vorne? Gleich danach gibt es einen vorzüglichen Platz, wo man zu Mittag essen kann."


© Bernhard Kauntz, Västerås 1999


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