DAS TAGEBUCH DES HERAKLES
Bei den Dolionen
Endlich! Jetzt sind wir wieder unterwegs und haben ein neues Abenteuer hinter uns.
Es war zunächst schwer, die Kameraden zur Weiterfahrt zu überreden, als wir noch bei den Frauen auf Lemnos waren. Viele von ihnen hatten sich ernstlich verliebt und überlegten, ob sie nicht ein geruhsames Familienleben dem abenteuerlichen Umherziehen vorziehen sollten. Ich hatte eine ernste Diskussion mit Jason und ich drohte, allein umzukehren, wenn er nicht weiterfahren wolle. Das erzielte die erhoffte Wirkung und als nun auch der Leiter der Expedition darauf drängte, die Insel zu verlassen, war es viel leichter, auch die anderen Teilnehmer zu überreden.
Es war komisch, sich wieder auf dem Meer zu befinden, hatten wir doch ein paar Monate auf Lemnos vertrödelt. Die ungewohnte Schaukelei machte etliche von uns erneut seekrank und so dauerte es einige Tage, bevor alle wieder bei Kräften waren, wir gute Fahrt machen konnten und die Argo ihre ganze Schnelligkeit ausspielen konnte.
Wir waren schon etliche Tage unterwegs und schätzten, dass wir noch immer an der mysischen Küste vorbeifuhren, als wir uns einer größeren Insel näherten. Da sahen wir plötzlich ein kleines Boot, das uns entgegenkam und in dem jemand aufgeregt winkte, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Als wir Seite an Seite mit dem Ruderboot lagen und ein Herold über die Reling der Argo geklettert war, empfing er uns mit folgenden Worten:
"Seid gegrüßt, ihr Helden Griechenlands, im Namen des Königs Kyzikos, Herrscher über die Dolionen, die diese Insel bewohnen. Ich habe den Auftrag meines Königs, euch willkommen zu heißen und euch seine Gastfreundschaft anzubieten."
Wir waren alle ein wenig verwundert, denn keiner von uns hatte je etwas vom Volk der Dolionen gehört und wir fragten uns, woher sie von uns wissen konnten, ja sogar unsere Herkunft kannten. Als Jason danach fragte, bekamen wir zur Antwort:
"Eure Ankunft wurde uns schon vor langer Zeit von einem Orakel geweissagt, zugleich mit der Aufforderung, euch reichlich zu bewirten und euch alle Hilfe zukommen zu lassen, die ihr auf eurer Reise brauchen könnt."
Nun ja, meinte Jason, wenn ein Orakel unsere Ankuft avisiert habe, dann müssten wir ja der Einladung Folge leisten. Aber er fragte den Herold auch noch, wie sie denn wissen konnten, dass gerade wir es waren, von denen das Orakel gesprochen hatte.
"Das Schiff!" Die Antwort des Herolds kam vollkommen überzeugt. "Das Orakel sagte uns, dass wir euch an dem Schiff erkennen würden, das in seiner Art einzigartig sein würde. Und es muss dieses Schiff sein, das damit gemeint war." Der Herold ließ zu seinen Worten die Hand kreisen, die so seine ganze Bewunderung für die Argo miteinbezog.
Nachdem wir versichert hatten, die Einladung gern anzunehmen, kletterte der Herold in sein kleines Boot zurück, das uns dann zur Insel lotste und dort in einen natürlichen Hafen, einer fast ganz umschlossenen Bucht, die nur eine schmale Einfahrt vom Meer hatte.
Kaum hatten wir die Argo verankert und waren an Land gegangen, als uns schon der König mit seinem Gefolge am Strand entgegenkam. Kyzikos war trotz seiner Jugend ein stattlicher Mann, der auch über viel Charme verfügte und uns damit sofort für sich einnahm. Wir wurden in die nahe Stadt geführt, deren seltsam starke Mauern uns ein wenig befremdeten. Aber die Leute waren freundlich, winkten und jubelten uns zu und reckten sich die Hälse aus, um ja nur ein Stückchen mehr von uns sehen zu können.
Bald saßen wir bei einem Festmahl, das wirklich nichts zu wünschen übrig ließ. Dort lernten wir auch die Gattin des Königs kennen, eine überaus hübsche, zierliche, junge Frau, die uns als Klite vorgestellt wurde. Das Königspaar war erst seit ein paar Monaten verheiratet und man sah ihnen ihre gegenseitige Verliebtheit an, auch wenn sie sich sehr zu beherrschen versuchten.
Wir aßen lange und ausgiebig bei angeregter Unterhaltung, obwohl es meist wir waren, die die Fragen der Dolionen beantworteten. Als wir bei den süßen Früchten der Nachspeise angelangt waren, fragte Telamon den König, warum denn die Stadt gar so fest gesichert war.
Kyzikos antwortete, dass die Dolionen die Insel leider mit Riesen teilen mussten, Ungeheuern, die sechs Arme hatten und außerdem ein ziemlich wildes Temperament besaßen.
"Normalerweise lassen sie uns unbehelligt", erzählte der König, "weil ihnen Poseidon, unser Stammvater, strenge Strafen angedroht hat, wenn sie uns belästigen sollten. Aber manchmal geht ihnen eben ihr Temperament durch und da sind wir vor ihren Raubzügen nicht sicher. Deshalb haben wir die Stadt vorsorglich gut befestigt."
Nachdem wir nach dem Essen noch eine großartige Tanzvorführung von jungen Dolioninnen bewundert hatten, machten wir aus, dass Kyzikos uns am nächsten Tag auf den höchsten Berg der Insel führen würde, um uns von dort ein Stück des weiteren Weges zu zeigen, weil wir uns jetzt doch schon in uns ziemlich unbekannten Gegenden befanden.
Am nächsten Morgen hatte ich natürlich das Pech, beim Losen die Schiffswache zu ziehen, zusammen mit Zetes, einem der Söhne des Boreas. Ich hätte gern ein wenig mehr von der Insel gesehen und vielleicht auch einen Blick auf eines der Ungeheuer erhascht, von denen der König uns gestern erzählt hatte. Aber ich sollte trotzdem auf meine Rechnung kommen, mehr als mir lieb war.
Ich lag am Deck in der Sonne und döste vor mich hin, als mich ein verwunderter Ausruf von Zetes hochfahren ließ. Verwirrt sah ich zuerst zum Strand, konnte aber nichts Merkwürdiges entdecken. Erst als ich mich umdrehte und zum Meer hinaus blickte, sah ich sie. Am anderen Ende der Bucht, wo eine Landzunge wie eine gewaltige Mole als Wellenbrecher diente, gingen mehrere riesenhafte Gestalten auf die Hafeneinfahrt zu.
Sie hatten wirklich sechs Arme; ein Paar ganz normal von den Schultern weg, ein Paar vorne an der Brust und ein Paar wieder seitlich oberhalb der Hüften. Das mussten die Wesen sein, von denen Kyzikos erzählt hatte. Ich überlegte, dass sie vermutlich von den Hundertarmigen abstammten, den ersten Ungeheuern, die Uranos mit Gaia gezeugt hatte und die jetzt im Tartaros ihr Leben fristen mussten. Fasziniert starrte ich übers Wasser und betrachtete die wüsten Gesellen, die jetzt begannen, große Steinblöcke aufzuheben, um sie bei der Einfahrt ins Wasser zu werfen. Es mochten zehn, zwölf Gestalten sein, die mit ihren vielen Armen ein ganz schönes Tempo vorlegten. Ich begriff, dass sie die Einfahrt blockieren wollten, aber das konnten wir nicht zulassen.
"He, was macht ihr denn dort", rief ich, so laut ich konnte. "Hört doch auf!"
Es mochten gute hundert Meter Entfernung zwischen uns gewesen sein, ich bin aber sicher, dass sie mich gehört haben mussten. Aber sie zeigten mit keiner Miene, dass sie sich darum kümmerten.
"Was tun wir jetzt", fragte ich Zekes. "Wir können uns doch nicht einsperren lassen."
Zekes zuckte die Schultern. "Ich weiß es auch nicht. Schieß ihnen doch einen Pfeil in den Hintern, vielleicht reagieren sie dann?"
Ich grinste über die Ausdrucksweise des Nordwindsohnes. Aber bevor ich direkte Feindlichkeiten gegen eine solche Übermacht begann, wollte ich doch Rückendeckung haben. Ich bat also Zekes, mit der Windeseile, zu der er fähig war, die anderen zu holen, während ich nötigenfalls das Schiff verteidigen wollte.
Zekes eilte davon und ich begann wieder über das Wasser zu brüllen, dass sie doch von ihrem Vorhaben ablassen sollten. Allerdings war mir auch weiterhin kein Erfolg beschieden. Nach einer ganzen Weile Brüllerei schien es aber einem der Riesen zu dumm zu werden, denn plötzlich flog ein Felsblock in Richtung Argo. Doch sogar seine Riesenkräfte reichten nicht aus, um den Stein über die ganze Bucht zu werfen. Er fiel ins Wasser, aber immehin nahe genug, dass mich die letzten Tropfen des aufspritzenden Wassers noch trafen. Jetzt hatte aber auch ich genug. Ich holte einen Pfeil aus meinem Köcher, legte an und schoss ihn in Richtung der Ungeheuer. Ich hatte auf den Hünen gezielt, der den Fels geworfen hatte, aber jetzt zeigte sich ein neuer Vorteil der Sechsarmigen. Zwei Arme verwendeten sie nun nämlich, um große Steinblöcke als Schilde vor den Körper zu halten, mit weiteren zwei warfen sie Steine auf mich zu und mit dem letzten Armenpaar fuhren sie fort, den Buchteingang zu vermauern.
Die meisten ihrer Würfe fielen zu kurz aus, weil sie zu große Geschosse verwendeten, nur einige kleinere Steine trafen die Argo oder sausten sogar über sie hinweg. Das war allerdings Grund genug, dass ich mich schnell hinter die Seitenwand kauerte und nur vorsichtig über den Rand spähte. Ich schoss auch ab und zu einen Pfeil ab, um sie beschäftigt zu halten, aber in meiner Stellung war das Zielen ziemlich schwierig. Und wenn ich schon einmal mein Ziel erreicht hätte, traf der Pfeil wieder nur den Schutzschild meiner Antagonisten.
Dieses Spiel hätten wir lange weitermachen können, ohne zu einer Entscheidung zu kommen, aber das sahen leider auch die Riesen ein. Sie teilten sich plötzlich in zwei Gruppen. Die eine machte an der Einfahrt weiter, aber die andere setzte sich in Bewegung, zurück über die Landzunge, um mich so von zwei Seiten in die Zange nehmen zu können. Jetzt wurde mir doch schön langsam mulmig.
Aber noch bevor die Ungeheuer den Strand erreichten, kamen meine Kameraden zurück. Jetzt entbrannte der Kampf richtig, doch nun waren wir in der Überzahl und das Gefecht war bald zu Ende. Vier Riesen mussten ihre Untat mit dem Leben bezahlen, die anderen flohen.
Wir überzeugten uns dann noch peinlich genau davon, dass die Treffer auf der Argo keinen Schaden angerichtet hatten, konnten aber beruhigt feststellen, dass das Schiff genauso seetauglich war wie vorher.
© Bernhard Kauntz, Västerås 2002
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