DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Die Jugendjahre des Ödipus


Am nächsten Tag waren wir wohl schon ein paar Stunden unterwegs, als mich Polyphemos erinnerte:

"Du wolltest mir doch mehr über Ödipus erzählen."

Es war nicht immer so leicht, der Küste zu folgen. Klar, wenn wir einen schönen Sandstrand entlang gehen konnten, ging es schnell voran, aber manchmal reichte ein felsiges Gelände bis ins Wasser hinein und wir mussten hochklettern, oder uns anderswo erst einen Weg durch ein Dickicht suchen. Jetzt aber sah es aus, als ob wir eine Weile ohne größere Anstrengungen weiterkommen konnten, deshalb griff ich den Faden wieder auf.

"Laios hatte also einen Diener beauftragt, den kleinen Ödipus im Wald auszusetzen. Der Diener hatte aber anscheinend moralische Bedenken, selbst eine solche Tat auszuführen, deshalb drückte er das Wickelkind dem nächstbesten Hirten in die Hand und gab den Auftrag weiter. Der Hirte seinerseits hatte aber wenig Lust, sein Gewissen durch eine solche Tat zu belasten, daher fand er einen neuen Abnehmer seiner königlichen Last. Wir werden wohl kaum jemals wissen, durch wieviele Hände der kleine Ödipus gehen musste, bevor er bei König Polybos von Korinth landete. Der König und seine Gattin Merope beschlossen, den Kleinen zu adoptieren und gaben ihm, seinen durchstochenen Füßen wegen, den Namen Ödipus, was ja soviel wie Schwellfuß bedeutet."

Ich blieb stehen und nahm einen tiefen Schluck aus meiner Wasserflasche, was mich daran erinnerte, dass wir unseren Vorrat bald auffüllen mussten. Dann aber sprach ich weiter:

"Der junge Ödipus hatte natürlich keinerlei Erinnerung an seine allerersten Tage, sondern er nahm an, dass das Korinther Königspaar seine leiblichen Eltern seien. Er wuchs zu einem stattlichen Jüngling heran, gewann bei Wettkämpfen viele Preise, sowohl bei körperlicher Betätigung, wie auch beim Vorlesen von eigenen Versen. Er mochte wohl an die zwanzig Jahre gezählt haben, als er nach Delphi reiste, um dort das Orakel zu befragen."

"Was wollte er denn wissen", fragte Polyphemos.

"Ich habe keine Ahnung", erwiderte ich. "Und wahrscheinlich hat es Ödipus vor Schrecken selbst vergessen, was er fragen wollte. Denn es geschah etwas Ungeheures. Es geschah, was bisher noch nie geschehen war. Als Ödipus den ersten Schritt in den Tempel hinein machte, wendete die Pythia ihm den Rücken zu und schrie:
'Hinweg, Verfluchter! Du, der du deinen Vater ermorden und mit deiner Mutter Kinder zeugen wirst, hast hier nichts zu suchen. Verschwinde!'

Der arme Ödipus konnte kaum fassen, was er hier hörte. Zutiefst getroffen, schwor er sich selbst, niemals wieder nach Korinth zurückzukehren, um die Worte der Pythia zu strafen."

Wir kletterten über einen vom Blitz gefällten Baum, der uns den Weg versperrte, eine riesige Eiche, von der nur mehr ein halber Stamm aus dem Boden ragte, der Rest lag auf der Erde. Es schien mir fast ein Symbol zu sein, für den dramatischen Teil meiner Erzählung, zu dem ich jetzt kommen musste.

"Ödipus wanderte also ziemlich ziellos einher, er hatte noch keine Pläne für die Zukunft. Da begegnete ihm an einer schmalen Wegstelle eine Kutsche. Ödipus wollte schon ausweichen, als ihm der Eigentümer des Gefährts anherrschte: 'Geh mir aus dem Weg, Junge!'
Trotz stieg in dem Königssohn hoch und jetzt blieb er mitten am Weg stehen. 'Ich gehorche nur Zeus und meinen Eltern', sagte er patzig."

Einer der Gefolgsleute stieg nun vom hinteren Trittbrett des Wagens und kam drohend auf Ödipus zu. Brutal ergriff ihn der Mann und wollte ihn gegen die Felswand drängen, aber der Jüngling machte sich frei und stieß seinen Widersacher gegen die Brust, sodass dieser zurücktaumelte, den Halt verlor und kopfüber den steilen Abhang auf der anderen Straßenseite hinunterstürzte. Ödipus fühlte keine Schuld, er hatte sich ja nur verteidigt; aber der Schrecken über das Geschehene saß ihm in den Knochen. Deshalb versuchte er, an der Kutsche vorbei, seinen weiteren Weg zu gehen. Da traf ihn plötzlich ein Peitschenschlag von oben. Der Besitzer des Wagens hatte ihm die Gerte über den Kopf gehauen. Rotes Feuer brannte jetzt nicht nur dort, wo ihn der Hieb getroffen hatte, sondern auch in seinem Inneren. Wütend ergriff Ödipus deshalb den Stiel der Peitsche und drückte mit aller Kraft zu. Der Stiel traf den älteren Mann so hart, dass dieser aus dem Sitz gehoben wurde, rücklings über die Kutsche und dann denselben Abhang hinunterfiel, wie schon sein Gefolgsmann vorher."

"Das war König Laios, sein Vater, nicht wahr?" Polyphemos unterbrach meinen Wortschwall.

"Ja, das ist richtig, aber das wusste Ödipus ja nicht. Das ist ja das Tragische an der Sache." Ich nickte meinem Begleiter zu. "Ödipus erschlug dann auch den zweiten Wächter des Königs in Notwehr und der Kutscher wurde von seinem eigenen Gefährt überrollt, als die Pferde, durch den Tumult aufgeschreckt, plötzlich ausbrachen. Der einzige Überlebende und damit Zeuge dieser Tat war der Leibdiener des Laios, ein schon zu Jahren gekommener Mann, der sich im Inneren des Wagens befunden hatte und den die galoppierenden Pferde jetzt mitnahmen. Schlimm ist auch, dass dieser Diener, als er schließlich wieder nach Theben kam, berichtete, der König sei von einer Räuberbande überfallen worden."

"Er hat sich wohl nicht getraut zu erzählen, dass es ein einzelner Mann war, der dieses Unheil anrichten konnte", meinte Polyphemos. Damit hatte er wahrscheinlich recht.

"Ja, vermutlich", stimmte ich ihm zu, "und er schämte sich anscheinend so sehr, dass er die Stadt verließ und sein weiteres Leben als Hirte auf dem Land zubrachte.
Ödipus aber zog weiter, kreuz und quer durchs Land, ohne Ziel und eigentlich ohne große Lebenslust. Dann hörte er davon, dass vor den Toren von Theben eine Sphinx hauste, die schon viele Menschen das Leben gekostet hatte."

"Das verstehe ich nicht ganz", warf Polyphemos ein. "Wie konnte Laios aus der Stadt wegfahren, wenn die Sphinx vor der Stadt lauerte?"

"Hinauskommen war nicht so schwierig", erklärte ich ihm. "Die Sphinx konnte schließlich nicht alle sieben Stadttore gleichzeitig bewachen. Und in der Stadt wusste man natürlich, wo sie sich befand. Da war es einfach, die Stadt durch ein anderes Tor zu verlassen. Für die Thebaner war es auch nicht unmöglich, wieder hineinzukommen, denn sie hatten ein Flaggensystem entwickelt, sodass man schon aus der Ferne sah, wo Gefahr lauerte. Aber viele, die von diesem System nichts wussten, wurden Opfer der Sphinx, also vor allen Dingen Kaufleute, umherziehende Dichter und Händler. Das führte dazu, dass bald niemand mehr nach Theben kam, der nicht dort wohnte. Das seinerseits bedeutete, dass die Stadt sowohl ökonomische, wie auch kulturelle Einbußen hinnehmen musste."

Polyphemos nickte nachdenklich. "Ja, klar", sagte er, "ich verstehe. Die Anwesenheit der Sphinx wirkte wie eine Blockade, nicht wahr?"

"Ja. Dazu kam noch, dass die Bauern ihre Felder in der Nähe der Stadt brach liegen ließen. Denn wer wollte sich schon der Gefahr aussetzen, dort von der Bestie überrascht zu werden? Und auch wenn die Sphinx nicht so viele thebanische Opfer forderte, war die Lage in der Stadt dennoch ziemlich trostlos. Daher ist es kein Wunder, dass man nach Laios Tod versprach, demjenigen die Königswürde zu überlassen, der die Sphinx bezwingen konnte."

Ich blieb stehen und deutete auf einen großen, flachen Felsblock.

"Schau, das wäre doch ein geeigneter Platz zum Mittagessen, meinst du nicht?"

Nach dem Essen lagen wir eine Weile faul in der Sonne, als Polyphemos wieder zu fragen begann.

"Hatte Theben denn keinen König nach Laios Tod, sodass sie das Amt einfach ausrufen konnten?"

"Oh ja, Kreon, der Bruder Iokastes, wurde König nach Laios."

"Was? War das vielleicht Dein Schwiegervater?" Polyphemos hatte sich aufgesetzt und sah mich zweifelnd an.

"Nein, natürlich nicht", antwortete ich grinsend. Mein Schwiegerpapa würde sich schön bedanken, wenn Du ihn mit seinem Namensvettern gleichstellst. Auch wenn sie entfernt miteinander verwandt sind, ist es nur eine Namensgleichheit. Nein, dieser Kreon hatte das Amt des Königs nur interimistisch übernommen, weil er eben der Bruder der Königin war. Zu dieser Zeit war er noch ein anständiger Mensch..."

Ich ließ die Worte in der Luft hängen und natürlich setzte Polyphemos gleich nach:

"Zu dieser Zeit? Was meinst Du damit? Dass er später kein anständiger Mensch war? Was ist denn passiert?"

"Na geh, glaubst du, ich bin ein Geschichtslexikon", grinste ich meinem Begleiter zu. "Ich dachte, du wolltest die Geschichte von Ödipus hören?"

"Ja, natürlich", gab er zu.

"Na also. Dann aber immer schön eins nach dem anderen. Wo waren wir denn stehengeblieben?"

"Ödipus zog ohne Ziel durchs Land", erinnerte mich Polyphemos und stand auf.

"Ja, richtig." Auch ich erhob mich und wir machten uns wieder auf den Weg. "Er hörte von der Sphinx in Theben und nachdem er ohnehin deprimiert war, dachte er, dass dies eine Herausforderung für ihn sein könnte, weil er außer seinem Leben nichts zu verlieren hatte. Man riet ihm von seinem Vorhaben ab, aber er machte sich entschlossen auf den Weg. Man sagt, dass er die Sphinx sogar suchte, dass er sie erst beim dritten Tor vorfand. Dann aber stand er Auge in Auge mit dem Ungeheuer."

Polyphemos hatte mich voller Spannung angesehen und nicht auf den Weg geachtet. Er stolperte über eine Wurzel, die aus dem Boden herausragte, und fiel der Länge nach hin. Ich half ihm wieder auf die Beine, dann erzählte ich weiter.

"Die Sphinx musste schon einen gewaltigen Eindruck auf die Leute gemacht haben. Der überdimensionierte Menschenkopf auf dem Körper eines Löwen, der außerdem noch mit mächtigen Schwingen versehen war... Und diese Sphinx herrschte Ödipus nun an:

'Sieh da, ein dreister Bursche kreuzt meinen Weg. Nun, das wirst du noch bereuen, Freund. Soll ich dich gleich töten oder willst du eine ehrliche Chance haben?'

'Lass das Katz-und-Maus-Spiel', entgegnete ihr Ödipus und zog sein Schwert. 'Ich bin bereit, mein Leben zu verteidigen.'

'Gut gebrüllt, junger Mann!' Der Hohn in der Stimme der Sphinx war nicht zu überhören. 'Nun ich habe eine Überraschung für dich. Nicht mit dem Schwert, sondern mit dem Verstand sollst du gegen mich kämpfen. Ich stelle dir ein Rätsel. Kannst du es lösen, überlebst du und ich gebe diese Stadt hier frei. Wenn du es nicht kannst, ist dein Leben verwirkt.'

Ödipus fand, dass er an diesem Vorschlag nur gewinnen konnte. Sollte er das Rätsel nicht lösen können, blieb ihm immer noch der physische Kampf mit dem Schwert als Alternative. Aber diese Möglichkeit unterband die Sphinx.

'Siehst du den Stein dort, von dem das Wasser hinuntertropft? Stelle dort deinen Trinkbecher hin - du hast für die Antwort Zeit, bis der Becher überläuft. Und ja, um vorzubeugen, legst du dein Schwert daneben ab.'

Bis zu dem Stein mochten es nur etwa zehn Meter sein, aber Ödipus sah ein, dass die Sphinx schneller sein würde als er, sollte er versuchen, sein Schwert zu erreichen, wenn der Becher überlief. Er traute der Bestie zu, den Abstand mit einem einzigen Satz zu überwinden. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Worten der Sphinx Folge zu leisten. Das Wasser tropfte nur ganz langsam, er würde also ziemlich viel Bedenkzeit haben. Ödipus stellte seinen Becher an den angewiesenen Platz und legte sein Schwert daneben. Dann ging er wieder zurück.

'Schön", sagte er. 'Und welche Garantie habe ich, dass du mich nicht tötest, auch wenn ich das Rätsel löse?'

'Gar keine', gab die Sphinx höhnisch zurück. 'Aber du hast keine andere Wahl. Also, das Wasser tropft schon in den Becher - willst du das Rätsel hören oder noch weiterdiskutieren?'

'Lass hören', entgegnete Ödipus mutig. 'Aber ich rufe die Götter an, als Zeugen für unsere Abmachung. Mögen sie dich auf der Stelle erschlagen, wenn du dich nicht daran hältst.'

Die Sphinx lachte sichessicher auf. 'Keine Sorge, junger Mann. Ich habe dich schon so gut wie sicher in meinen Klauen. Höre also, hier ist mein Rätsel: Welches Wesen geht auf zwei, drei oder vier Beinen, ist am stärksten, wenn es auf zwei geht, und am schwächsten, wenn es alle vier Beine verwendet?'

'So ein Blödsinn', war der erste Gedanke des Ödipus, 'so etwas gibt es doch nicht.' Er schielte zu dem Becher unter dem tropfenden Wasser und sah, dass er noch viel Zeit hatte, um nachzudenken."

Ich sah Polyphemos an: "Nun, könntest du dieses Rätsel lösen?"

"Ich glaube nicht, dass ich es gekonnt hätte", antwortete er, "aber ich kenne die Lösung. Die ist ja ein berühmter Teil der Ödipus-Geschichte."

"Interessant ist, dass Ödipus behauptete, dass er nur durch seine Angst auf die Lösung gekommen sei. Er gab nämlich zu, dass er schon am Verzweifeln war und daran dachte, dass die Sphinx ihn wohl töten würde, dass er wohl niemals ein hohes Alter erreichen würde. Und bei dem Stichwort 'hohes Alter' hatte er die Vision eines Greises, der, auf seinen Stock gestützt, sich mit Mühe dahinbewegte.

'Es ist der Mensch', schrie Ödipus plötzlich die Sphinx an. 'Als Kleinkind krabbelt er auf allen Vieren und ist am schwächsten, und im Alter braucht er einen Stock, um vorwärts zu kommen!"

Die Sphinx starrte ihn eine Weile schweigend an, bevor sie wutentbrannt durch die Nase schnaubte und sich davonmachte. In Theben aber erhob sich lauter Jubel und man trug Ödipus unter Freudengeheul in die Stadt hinein."


© Bernhard Kauntz, Västerås 2002


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