DAS TAGEBUCH DES HERAKLES
Adrastos
Es regnet noch immer. Es schüttet, um es genau zu beschreiben. Schon seit gestern. Wir sind zwar nicht aus Zucker gemacht, sodass wir im Regen zergehen würden, aber heute Morgen sagten wir uns, dass wir, wenn wir schon einen so guten Unterschlupf gefunden hatten, doch wirklich das ärgste Wetter abwarten konnten. Nun, wir warten noch immer, obwohl es schon nach Mittag ist. Ich mag diese Wartezeit eigentlich nicht, weil ich schon sehr gern nach Hause kommen möchte, aber ich gebe ja zu, dass wir in zwei Minuten völlig durchnässt wären, während wir hier recht gemütlich im Trockenen sitzen.
Polyphemos hat mich gleich in der Frühe gebeten, meine Erzählung fortzusetzen und nachdem wir ohnehin nichts Besseres zu tun hatten, erzählte ich ihm die Geschichte von Adrastos.
"Adrastos war König von Argos, ein Sohn des Talaos", begann ich, wurde aber von meinem Freund gleich unterbrochen.
"Was denn? Wir waren gestern doch dort stehengeblieben, wo Polyneikes aus Theben floh. Was geschah dann?"
"Nun, sei doch nicht so ungeduldig", ermahnte ich ihn grinsend. "Polyneikes kam auf seiner Flucht nach Argos. Darauf komme ich schon noch zurück. Aber um den Hintergrund verstehen zu können, musst du auch die Geschichte des Adrastos kennen. Darf ich dir die jetzt weitererzählen?"
"Ja, entschuldige, natürlich", sagte Polyphemos so kleinlaut, dass ich lachen musste. Ich hieb ihn mit der Hand auf den Rücken, um ihm zu zeigen, dass ich doch nur Spaß gemacht hatte und fuhr dann fort:
"Ich weiß nicht genau, wer seine Mutter war. Mein Gedächtnis lässt auch schon nach. Ich habe da zwei Namen im Kopf, Euronyme und Lysimache. Aber ich kann jetzt mit bestem Willen nicht sagen, wer von diesen Adrastos Mutter war. Auf jeden Fall war er mit Amphithea verheiratet und hatte mit ihr fünf Kinder, unter ihnen die Töchter Argeia und Deipyle.
Von diesen Töchtern träumte Adrastos eines Nachts, und zwar träumte er, dass er sie mit einem Löwen und einem Eber verheiraten werde."
"Mit einem Löwen und einem Eber", fragte Polyphemos ungläubig.
"Ja, so war es. Adrastos hatte natürlich auch keine Ahnung, was dieser Traum bedeuten sollte, andererseits war er so merkwürdig, dass er ihn nie vergessen konnte."
Ich machte eine Pause, weil ich jetzt das Thema wechseln musste. Ich sagte dann:
"Ich werde auf den Traum später noch zurückkommen, jetzt aber will ich Dir von der seltsamen Freundschaft des Adrastos mit Amphiaraos erzählen. Die beiden kannten einander schon von klein an, sie spielten schon zusammen im Sand und wetteiferten später im Diskuswurf und im Ringen. Sie waren Freunde, so sehr, wie man nur befreundet sein kann. Dabei waren die sozialen Unterschiede recht groß, denn Amphiaraos war ein Kind gewöhnlicher Leute, Adrastos jedoch der Königssohn, der einmal das Reich erben würde. Amphiaraos hatte jedoch eine Gabe, die mit sozialen Verhältnissen überhaupt nichts zu tun hatte - er war hellseherisch veranlagt.
Eines Tages bemerkte Adrastos, dass sein Freund anders war als sonst. Unter Freunden merkt man ja auch Dinge, die der andere gar nicht zeigen will. Und Adrastos sagte seinem Freund auf den Kopf zu, dass da etwas nicht stimmte. Doch Amphiaraos schüttelte nur den Kopf.
'Nein, es ist nichts', antwortete er und versuchte zu lächeln, was ihm aber gar nicht gelang.
Adrastos drang weiter in seinen Freund, er gab ihm keine Ruhe. Tagelang hielt Amphiaraos sein Geheimnis für sich, aber schließlich wurde es ihm zuviel und er gab es preis.
'Weißt du, Adrastos, es ist eine schlimme Sache, die ich gesehen habe, deshalb möchte ich sie dir eigentllich gar nicht sagen.'
'Ach, komm schon', schlug der Königssohn die Einleitung in den Wind, 'Jetzt warst du eine ganze Woche lang so komisch, es wird höchste Zeit, dass du dir deinen Kummer von der Seele redest.'
'Nun - ich habe gesehen, dass ich eines Tages alles besitzen werde, was heute dir gehört. Alles, was du hast, wird mir gehören. Ich weiß nicht, warum oder wie das geschehen wird, und ich will es auch gar nicht. Ich sah nur, dass es so sein wird.'
Adrastos sah zwar ungläubig aus und meinte, dass das doch unmöglich sei, aber tief in seiner Seele hatte er wohl doch Zweifel. Er begann, seinen Freund mit anderen Augen zu sehen und es dauerte nicht lange, bevor die Freundschaft abkühlte und schließlich zerbrach."
"Schade", meinte Polyphemos kopfschüttelnd. "Schade, dass materielle Werte wichtiger sein sollen, als eine Freundschaft. Aber ist es wirklich so gekommen, dass Amphiaraos alles bekam?"
"Nun, ja", erklärte ich. "Ein paar Jahre später gab es einen Volksaufstand in Argos, König Talaos wurde abgesetzt, ich glaube sogar ermordet, und das Volk setzte Amphiaraos als König ein. Auf diese Art hat der Seher also doch recht gehabt."
Polyphemos gab mir ein Stück Hasenfleisch, das noch von gestern übriggeblieben war. Wir saßen dann ein Weile kauend da und sahen den heftigen Regenströmen zu, die nicht aufhören wollten. Dann griff ich den Faden wieder auf.
"Amphiaraos aber strebte gar nicht danach, König zu sein, wie er ja selbst gesagt hatte. Er übte das Amt eine Weile lang aus, bis sich die Unruhe im Volk gelegt hatte, dann dankte er ab und übergab den Königstitel an Adrastos. Um die neu entstandene Freundschaft nun nie wieder zu gefährden, fanden die beiden eine recht interessante Lösung. Adrastos gab Amphiaraos seine Schwester Eriphyle zur Frau. Das war ja nichts Neues, Heiraten hatten immer schon dazu gedient, dazuzuhelfen, Allianzen zu bewahren, aber die beiden gingen weiter. Sie beschlossen, dass sie, wenn sie jemals uneinig sein sollten, sich in das Urteil von Eriphyle finden würden."
Mein Freund lachte auf. "Ja, das war wenigstens eine originelle Lösung. Klar, als Gattin beziehungsweise Schwester war sie ja beiden verbunden..."
"Na ja, so einfach war das gar nicht", schwächte ich ab. "Nach ein paar Jahren mochte Eriphyle ihren Gatten nicht mehr allzu sehr und war schließlich an seinem Untergang beteiligt. Aber das kommt später. Zuerst möchte ich Dir noch die Auflösung von Adrastos Traum schildern."
"Ach ja, die Heirat der Töchter mit einem Löwen und einem Eber!"
"Ja, genau. Eines Tages hörte Adrastos in der Nacht Waffenlärm vor seinem Palast und sah, dass dort ein Zweikampf stattfand. Er ließ die Wache die beiden trennen und verhaften und am nächsten Morgen vor den Thron führen. Da stellte sich heraus, dass die beiden gar nichts gegeneinander hatten, sondern dass in der Dunkelheit einer den anderen für einen Feind gehalten hatte. So war der Kampf entbrannt. Wie groß aber war die Verwunderung des Königs, als er sich die Schilder der beiden ansah. Einer der Männer führte einen Löwenkopf als Verzierung auf seinem Schild, auf dem anderen Schild war ein mächtiger Eber abgebildet."
Ich verstummte. Polyphemos wartete eine Weile darauf, dass ich weiterredete, aber ich fand, dass ich für heute schon genug erzählt hatte. Außerdem wollte ich ihn auch ein wenig auf die Folter spannen. Schließlich sagte er:
"Ja, und? Ich begreife natürlich, dass das der Löwe und der Eber waren, mit denen er seine Töchter verheiraten sollte, aber wer waren die zwei?"
Ich blieb aber standhaft und erklärte, dass es jetzt genug sein musste, weil erstens mein Mund vom vielen Reden schon ganz ausgetrocknet war und ich zweitens auch noch mein Tagebuch aufdatieren wollte.
Das habe ich somit getan. Und ich glaube, da hinten wird der Himmel endlich auch ein bisschen heller.
© Bernhard Kauntz, Västerås 2003
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