DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Myrrha und Adonis


Manchmal hat man Glück im Leben. Ich hatte mich heute zu Mittag unter den einzigen Baum gesetzt, der weit und breit zu sehen war, um beim Essen ein wenig Schatten zu haben. Dann, als ich mir an einem spitzen Vogelknochen das Zahnfleisch wund stach, war mir der Baum doppelt willkommen. Es war nämlich ein Myrrhenbaum, der bei uns außerdem sehr selten ist, weil er eher in südlicheren Gegenden wächst. Es war mir im Augenblick aber ziemlich egal, wieso der Baum gerade hier stand, Hauptsache, er tat es. Wie alle wissen, ist gerade die Myrrhe sehr dafür geeignet, das Zahnfleisch zu heilen. Ich ritzte also die Rinde auf und wartete auf den ersten Tropfen Harz, den ich auch gleich zu kauen begann, um meine Schmerzen zu lindern.

Guten Mutes setzte ich dann meine Wanderung heimwärts fort, aber meine Gedanken schweiften noch immer um den Myrrhenbaum. Natürlich kannte ich die Geschichte von Myrrha, oder Smyrna, wie sie auch hieß. Die Tochtes des Kinyras, König auf Zypern, hatte ihren Vater verführt und erwartete ein Kind von ihm. Man munkelt, dass Aphrodite ihre Hand im Spiel hatte, weil die Gattin des Kinyras, Cenchreis, Myrrhas Mutter also, sich gerühmt hatte, Aphrodite an Schönheit wenigstens nicht nachzustehen. Um die Frau zu bestrafen, hieß die Göttin Eros einen seiner Pfeile auf Myrrha abzuschießen, gerade als sie mit ihrem Vater allein war.

Ich schmunzelte über sie Eifersucht der Frauen. Als ob Schönheit das einzig Seligmachende wäre. Ich dachte an meine Megara zu Hause. Sicher, sie war auch eine hübsche Frau, aber das spielte doch eigentlich keine Rolle. Viel wichtiger war es doch, dass sie meinen Kindern eine gute Mutter war, dass sie mir gegenüber verlässlich und loyal und ein guter Freund war. Außerdem ist wohl jede Frau, die geliebt wird, in den Augen ihres Liebhabers schön ...

Nun, Myrrha musste auf jeden Fall den Zorn Aphrodites ausbaden. Als sie die Konsequenzen ihrer Verbindung mit ihrem Vater einsah, war sie so erschrocken, dass sie sich von den Göttern erbat, in einen Myrrhenbaum verwandelt zu werden. Doch als die Zeit reif war, kam die Geburtsgöttin Eileithyia dem kleinen Jungen, den Myrrha gebar, zu Hilfe und spaltete die Rinde des Baumes, sodass das Kind in unsere Welt kommen konnte. Das Neugeborene wurde dann von Nymphen gefunden, die es bei sich behielten und ihm den Namen Adonis gaben. Adonis entwickelte sich zu einem äußerst hübschen Kind.

Als der Knabe sein erstes Lebensjahrzehnt vollendet hatte, war er so voller Anmut, dass Aphrodite selbst sich in ihn verliebte. Um ihn vor der Welt zu verbergen, bis er erwachsen geworden war, vermutlich um ihn dann für sich allein zu haben, versteckte sie Adonis bei Persephone in der Unterwelt. Dort verbrachte der hübsche Jüngling das zweite Jahrzehnt seines Lebens.

Womit Aphrodite allerdings nicht gerechnet hatte, als sie Adonis später bei Persephone abholen wollte, war, dass sich die Herrscherin der Unterwelt selbst in den jungen Mann verliebt hatte und ihn nicht herausgeben wollte.

Wie so oft bei solchen Gelegenheiten, rief man meinen Vater als Schiedsrichter an. Zeus aber hatte wohl schon genug Erfahrung von solchen Entscheidungen, sodass er wusste, dass er es nie allen recht machen konnte. Deshalb überließ er die Aufgabe Kalliope. Die Muse entschied, dass Adonis die halbe Zeit bei Aphrodite, die andere Hälfte bei Persephone verbringen solle.

Adonis fand großen Gefallen an der Jagd, er schaffte sich zwei Hunde an und streifte tagelang durch die Wälder. Das allerdings hatte Aphrodite nicht erwartet, denn sie hatte gehofft, ihren Liebsten öfter bei sich zu haben. Aber wenn man es auf die eine Art nicht haben kann, dann muss man eben eine andere erfinden. Deshalb beschloss Aphrodite, ihren Schatz auf seinen Jagdzügen zu begleiten. Auch sie fing schnell an, daran Gefallen zu finden und vergaß darüber sogar ihre göttlichen Pflichten. Weniger Gefallen daran hatte Ares, der sich seinerseits jetzt von seiner Geliebten vernachlässigt fühlte. Er stellte die Liebesgöttin zur Rede, doch Aphrodite war für alle Bitten und Einsprüche taub. Daraufhin schwor ihr Ares, dass er sich rächen würde.

Ich weiß nicht, ob er ihr erzählte, wie er es anstellen wollte, oder ob Aphrodite ihren Liebhaber und seine Launen selbst so gut kannte. Auf jeden Fall warnte sie Adonis, in Zukunft nur Tiere zu jagen, die fliehen würden, nicht aber solche, die sich zur Wehr setzen könnten.

Aber Adonis war jetzt zwanzig, voller Kraft und Selbstvertrauen, er wurde sogar von zwei Göttinnen geliebt, wie sollte er sich da nicht unverwundbar fühlen? Er schlug die Ratschläge seiner Geliebten in den Wind, ja im Gegenteil, er suchte sogar die Gefahr, wollte seine Stärke zeigen. Ich nehme an, das geht vielen jungen Männern so - teils um sich selbst zu beweisen, wie gut man doch ist, teils und nicht zuletzt aber, um der Geliebten zu imponieren.

Es dauerte jedoch gar nicht lange, bevor die Rache des Ares dem jungen Leben ein Ende setzte. Ares hatte sich in einen wilden Eber verwandelt und zeigte sich Adonis, halb durch Bäume verdeckt, um dessen Neugierde und Jagdleidenschaft aufzustacheln. Der junge Mann fiel natürlich sofort auf die List herein, schlich näher und schoss einen Pfeil ab. Obwohl er sonst ein guter Schütze war, prallte der Pfeil von einem Ast ab und verfehlte sein Ziel. Adonis schlich noch näher und schleuderte dann seinen Speer mit aller Kraft auf das Wildschwein.

Verwirrt schüttelte er den Kopf, als auch der Speer von seiner Bahn abwich - er konnte ja nicht wissen, dass er einen Gott als Gegner hatte. Aber es war ihm keine Zeit mehr vergönnt, noch lange darüber nachzudenken, denn der Eber brach schon aus dem Gebüsch hervor, stieß im Lauf einen der Hunde beiseite und hieb dann seine mächtigen Hauer in die Oberschenkel des Adonis und, als dieser zu Boden fiel, dann nocheinmal gerade in die Brust des Jünglings.

Die herbeieilende Aphrodite konnte nur noch den Tod des Geliebten beweinen. Aus ein paar Tropfen seines Blutes ließ sie die Anemonen sprießen, der Rest floss in den nahegelegenen Fluss, dessen Wasser sich seither in jedem Frühjahr rot färbt.

Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich weiters gar nicht auf meinen Weg geachtet hatte und nun plötzlich erstaunt feststellte, dass sich weiter vorne, an den Fuß eines Hügels schmiegend, eine kleine Ortschaft befand. Ich beschloss mich für einen Versuch, einen Gastfreund zu finden, der mir für die Nacht ein Bett anbieten konnte.


© Bernhard Kauntz, Västerås 2004


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