DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Hero und Leander


Ich machte mir wirklich einen faulen Tag. Ich spazierte in der Stadt umher, sprach belangloses Zeug mit den Leuten, die ich traf, und erholte mich ein wenig von den Strapazen meines Fußmarsches. Am Abend saß ich wieder im Gastraum bei Evander und verzehrte ein großes Stück Wildschweinbraten, den ich mit Wein hinunterspülte.

Als mein Wirt ein wenig Zeit hatte, weil er das Servieren seiner Tochter übertragen hatte, setzte er sich wieder zu mir an den Tisch. Nach ein paar höflichen Floskeln meinte ich, dass heute wohl die Reihe an ihm sei, eine Geschichte zu erzählen. Er ließ sich auch gar nicht lange bitten, holte nur zuerst einen Krug Wein und begann mit einer Frage:

"Du bist über die Kuhfurt, den Bosporos, gekommen, nicht wahr?" Ich nickte und er fuhr fort:

"Bei der anderen Meeresenge, die das kleine Meer begrenzt, dort wo Helle von dem goldenen Widder fiel, also am Hellespont, lebten vor gar nicht so langer Zeit zwei junge Menschen. Es waren ein Mädchen und ein Junge. Sie hieß Hero und lebte in Sestos, der Stadt, die von uns aus gesehen am gegenüberliegenden Ufer liegt. Sie war eine Priesterin der Aphrodite und daher unberührbar. Sie war auch pflichtbewusst und versah ihren Dienst im Heiligtum der Göttin, ohne je eine Opferstunde zu versäumen, ohne je ungebadet das Opfer darzubieten, kurz, ohne überhaupt durch den kleinsten Makel aufzufallen.

Am hiesigen Ufer, in Abydos, lebte Leander, ein hübscher Jüngling, der von seinem Onkel zum Kaufmann ausgebildet wurde. Auch er zeigte sich tüchtig, daher ließ ihn der Oheim bald allein kurze Handelsreisen unternehmen, damit er sich daran gewöhne, beim Feilschen den richtigen Preis der Waren einzuschätzen. Auch sollte er lernen, eigene Entschlüsse zu fassen, welches Handelsgut dem Geschäft zuträglich war, sowie wo man die diversen Handelswaren feilbot, beziehungsweise einkaufte. Leandros war ein kluger, junger Mann. Er lernte schnell. In Kombination mit seinem freundlichen Wesen gelang es ihm oft, billig einzukaufen und dann das Gut mit hohem Profit wieder zu verkaufen."

Ein Junge im Alter von zwölf, dreizehn Jahren stellte sich plötzlich neben unseren Tisch, wartete aber höflich, bis Evander zu sprechen aufhörte und ihn ansah. Dann sagte er:

"Onkel, ich packe gerade meine Sachen für die Heimreise, aber ich kann meinen Köcher nicht finden."

Evander lächelte und sagte zu mir:

"Das ist Abderos, der Sohn meiner Schwester, der morgen mit dir nach Aisyme fahren wird. Entschuldige mich bitte einen Augenblick." Und zu Abderos gewandt, sagte er:

"Ja, ich weiß. Dein Köcher war kaum mehr die Bezeichnung wert, so verschlissen und löchrig war er schon. Ich wollte dir als Abschiedsgeschenk einen neuen geben. Schau mal, da oben auf dem Regal. Siehst du den? Hol ihn einmal herunter."

"Was? Den?" Der Junge schluckte ein paar Mal kräftig vor Überraschung. "Aber das ist ja... das ist der schönste Köcher, den ich je gesehen habe."

Ich sah zum Regal hinauf und verstand die Freude des Jungen. Dort stand ein hervorragend bearbeiteter Lederköcher, in den man das Antlitz des Apoll eingeschnitten hate. Ich hätte nichts dagegen gehabt, ihn gegen meinen einzutauschen.

Evander nickte lächelnd und meinte, dass Abderos nun schon alt genug sei, um auf eine gute Ausrüstung achtzugeben. Sein Neffe holte den Köcher, betrachtete ihn bewundernd und schnallte ihn gleich probeweise um die Hüften. Die Riemen waren noch etwas lang, aber das würde nicht stören. Nachdem er sich mit leuchtenden Augen bedankt hatte, verschwand er wieder die Treppe hinauf.

"Ein netter Junge", sagte ich. Er war mir sofort sympathisch gewesen. Evander nickte, noch immer lächelnd.

"Ja, er macht sich gut. Ich bin recht stolz auf ihn. Jetzt trifft er auch schon manchmal mit seinen Pfeilen ..." Als er unsere Becher aufgefüllt hatte, sagte er:

"Aber zurück zu Hero und Leander. Das Schicksal wollte, dass Leander nach Sestos geschickt wurde und dass er Hero traf, als er wohlriechende Öle verkaufte, die man im Tempel gebrauchte. Als die beiden einander erblicken, waren sie wie vom Donner gerührt. Beide wussten, dass ihnen hier der geliebte Partner gegenüberstand, dass sie ohne einander nicht mehr auskommen konnten."

Evander grinste, ein wenig verlegen, wie es mir schien.

"Liebe beim ersten Augenblick mag sich zwar wie eine abgedroschene Phrase anhören, aber es gibt sie tatsächlich. Ich habe da eine besondere Erfahrung ... Und wenn die Liebe zuschlägt, dann gibt es keine Grenzen und Pflichten länger, alle Probleme müssen irgendwie überwunden werden. Zwar hatte Hero nur mehr ein gutes halbes Jahr Tempeldienst, aber diese Zeit erschien den beiden länger als die Ewigkeit.
Ich nehme an, dass Leander sich in den kommenden Tagen noch öfter Gründe suchte, die ihn nach Sestos führten, um Hero zu sehen, denn so viel Zeit zum Plaudern gab es wohl nicht bei jedem Besuch. Trotzdem gelang es den beiden, einen Plan zu schmieden, wie sie einander ungestört sehen konnten. Leander versprach seiner Geliebten, nachts über das Wasser zu schwimmen, wenn sie ihm nur eine Lampe ins Fenster stellen wolle, oben im Tempelturm, wo sie ihr Zimmer hatte, damit er beim Schwimmen einen Wegweiser habe. Natürlich versprach Hero, seinem Wunsch nachzukommen. Danach schwamm der Junge durch das nächtliche Meer hin und zurück, um jeweils ein paar Stunden mit Hero verbringen zu können. Jedes Mal verabredeten sie den Tag für das nächste Stelldichein und dann stellte Hero bei Einbruch der Dunkelheit eine helle Lampe ins Fenster.
Lange Zeit ging alles gut und die beiden genossen ihr Liebesglück. An einem der Abende jedoch, an dem sie sich treffen wollten, peitschte Zephyr das Wasser auf, sodass hohe Wellen das Vorankommen im Meer erschwerten. Vielleicht hatte Leander seine Zweifel, vielleicht aber auch nicht, denn Liebe macht ja bekanntlich blind gegen alle Gefahren. Der Junge hätte es sicher trotzdem geschafft, wenn der Wind nicht auch die Lampe von Heros Fenster geweht hätte. So aber fand sich Leander inmitten eines wütenden Meeres, ohne die Richtung zu wissen, in der er weiterschwimmen musste."

"Aber hat nicht Hero eine zweite Lampe angezündet", warf ich ein.

"Nein, das konnte sie nicht", schüttelte mein Gastgeber betrübt den Kopf. "Sie musste nämlich gerade an diesem Tag eine andere Tempeldienerin beim Abendgottesdienst vertreten. Sie wusste daher lange Zeit nicht, dass es Leanders Lebensversicherung nicht mehr gab. Natürlich fand sie ein neues Licht, als sie hinauf in den Turm kam, aber da war es für Leander schon zu spät. Er war ertrunken.
Hero war außer sich vor Sorge und wachte die ganze Nacht vergeblich am Fenster. Im Morgengrauen musste sie dann mit Schrecken sehen, wie einige Nymphen den Leichnam ihres Geliebten an den Strand zogen. Das war ihr zuviel. Mit einem grässlichen Aufschrei stürzte sie sich aus dem Fenster und schlug direkt neben dem leblosen Körper Leanders tot auf."

Wir saßen eine Weile still und gedachten der beiden unglücklich Liebenden, dann erhob ich mich, wünschte Evander eine gute Nacht und begab mich auf mein Lager.


© Bernhard Kauntz, Västerås 2005


Zur , zum , oder zur

webmaster@werbeka.com