DAS TAGEBUCH DES HERAKLES
Erisichthon und Mestra
Wir erreichten Aisyme ohne weiteres Missgeschick, aber es war langsam gegangen. Die Nacht war in ihrer dunkelsten Phase, als wir bei dem Haus ankamen, wo Abderos Mutter, Carmenta, wohnte. Dort war alles hell beleuchtet und einigermaßen in Aufruhr. Zum Teil kam das daher, dass wir so spät kamen, teils aber auch, weil Carmenta mit ihrer Freundin Kastaneia Abschied feierte. Diese würde nämlich am nächsten Morgen Aisyme verlassen und mit dem Schiff nach Troja fahren, von wo aus sie eine Einladung des König Priamos erreicht hatte. Kastaneia ließ keine Zweifel daran, dass sie versuchen werde, Priamos zu verführen und, wenn möglich, ihm einen Sohn zu schenken - dann würde sie ihr fürstliches Auskommen für den Rest ihres Lebens haben. Sie hatte eine äußerst offene und fröhliche Art und sie erzählte von ihren Plänen mit so viel Heiterkeit und Charm, dass sie die ganze Gesellschaft mitriss.
Daher fand ich in dieser Nacht nicht viel Schlaf, denn schon im Morgengrauen war ich bereit, weiterzuziehen. Man hatte mir den Weg erklärt, weil jetzt ich nicht mehr einfach der Küste entlanggehen konnte. Eine ziemlich große Halbinsel streckte sich nämlich von hier nach Süden und dieser Umweg wäre ja sehr unnötig gewesen. Statt dessen sollte ich geradeaus nach Westen gehen und an zwei riesigen Seen vorbeikommen. Dann, wenn ich wieder ans Meer kam, würde ich endlich abbiegen und dann hauptsächlich in südlicher Richtung gehen können, bis ich zuletzt endlich zu Hause sein würde.
Nach zwei Tagen Marsch war ich an der Halbinsel vorbei und mein Herz schlug schon jetzt höher, voller Erwartung. Nach weiteren zwei Tagen bekam ich die Gelegenheit mit einem Eselsgespann mitzufahren. Das ging zwar nicht viel schneller, aber es war auf jeden Fall ein wenig Abwechslung und ich hatte gar nichts dagegen, meine Füße einen Tag lang zu schonen.
Der Kutscher war ein fröhlicher junger Mann, der Oinomakos hieß und der in Thessalien gerade beim Diskuswerfen einen kleineren Wettbewerb gewonnen hatte. Jetzt war er unterwegs nach Hause, voll Eifer, seiner Familie und seinen Freunden von seiner Großtat erzählen zu können. Auch ich bekam die Ehre, alles im Detail berichtet zu bekommen - von seinen ersten Vorbereitungen vor dem Wettbewerb bis zum letzten, gewinnbringenden Wurf, als der Gegenwind dazugeholfen hatte, die Scheibe hoch in die Luft zu führen und sie dort weiterzutragen, sodass die Flugstrecke entscheidend verlängert wurde.
Selbst saß ich sprachlos da, aus Verwunderung über die gigantische Höhe des Olymp, als wir an dessen Fuß vorbeifuhren. Nie im Leben hätte ich mir träumen lassen, dass er so hoch sein könne. Ich war zwar schon dort oben gewesen, damals als ich dazuhelfen durfte, die Giganten zu besiegen. Aber es war etwas ganz Anderes, den Berg von unten zu sehen.
Endlich war das allerletzte Wort über den Diskuswettbewerb gesagt und wir kamen, in dieser Gegend fast gezwungenermaßen, auf die Götter zu sprechen. Normalerweise erzähle ich nichts über meine eigenen Taten. Teils habe ich kein Verlangen, damit anzugeben, teils will ich auch nicht, dass mich meine Gesprächspartner dann anhimmeln. Aber heute war die Umgebung schuld daran und die Worte kamen wie von selbst. Ich fürchte, dass ich Oinomakos siegesglühende Selbstsicherheit ein wenig erschütterte, als ich von meinem Aufenthalt bei den Göttern erzählte. Aber er verkraftete es trotzdem gut und fiel auf jeden Fall nicht aus Verehrung auf die Knie vor mir.
Statt dessen konterte er mit einer Erzählung, die ich noch nicht kannte. Wir fuhren gerade durch ein Wäldchen, das Demeter geweiht war - hier bekam er wohl seine Assoziation, nehme ich an.
"Diese Geschichte erzählte mir mein Gastgeber, oben in Thessalien", sagte Oinomakos. "Du weißt schon, dort wo ich mich während der Diskusspiele aufhielt."
"Ja, ich verstehe", sagte ich schnell und um zu vermeiden, dass er wieder in die Diskusspur abbog, fragte ich: "Da ging es auch um Demeter, sagtest Du?" Er nickte.
"Ja, das kann man wohl sagen. Die Hauptperson hieß allerdings Erisichthon, ein grober und ungebildeter Prinz, Sohn des Königs Triopas und ein Abkomme von Poseidon, der sein Großvater war. Dieser Erisichthon hatte eine Schar von Freunden versammelt, um mit ihnen im Wald Holz zu fällen, das er zum Bau eines Lusthauses verwenden wollte. Schon aus der Ferne sahen die Männer eine Eiche, die sich über alle anderen Bäume des Waldes erhob.
'Die will ich haben', rief der Königssohn und marschierte mit entschlossenen Schritten auf sein Ziel zu.
'Sei vorsichtig, die Eiche steht in einem Wald, der Demeter geweiht ist', warnte einer seiner Freunde, aber Erisichthons Eifer war ungebremst.
'Diesen Baum will ich haben, und wenn Demeter selbst darinnen wohnen sollte', antwortete er lachend.
Bald waren sie bei der mächtigsten Eiche angekommen, die je einer von ihnen gesehen hatte. Sie streckte sich gut fünfzehn Klafter hoch in den Himmel und nicht nur der Stamm, sondern auch die unteren, groß und gerade gewachsenen Äste würden sich ausgezeichnet zum Hausbau eignen. Die Freunde des Prinzen waren jedoch besorgt und keiner wollte mit dem Fällen beginnen. Erisichthon versuchte, sie zu überreden und malte ihnen aus, welche Feste sie in dem neuen Haus feiern würden - bei einem Esstisch, dessen Platte aus einem einzigen Stück gefertigt war. Aber es half nichts. Da nahm er selbst eine Axt in die Hände und trieb sie mit einem schrägen Hieb in den Baum hinein. Gleich sprudelte Blut aus der geschlagenen Furche, was alle mit bestürzten Ausrufen quittierten. Einer der am nächsten stehenden Männer fiel Erisichthon in den Arm, als dieser zum nächsten Hieb ausholte.
'Bist du verrückt geworden', schrie der Prinz außer sich vor Wut, denn die Axt war dadurch hauchdünn an seinem Bein vorbei gegangen. 'Hier sollst du sehen, was passiert, wenn man mich hindern will!'
Mit dem nächsten Hieb zielte er auf den Hals seines Freundes und mit einem kräftigen Schwung schlug er ihm den Kopf ab. Dann ging er weiter wie ein Besessener auf die große Eiche los. Nicht einmal die Stimme konnte ihn aufhalten, die plötzlich aus dem Inneren des Baumes zu hören war. Die Stimme gehörte einer Hamadryade, die in der Eiche wohnte und die Erisichthon warnte, seine Arbeit fortzusetzen.
'Ich bin eine von Demeters Lieblingsnymphen und sie wird dich hart bestrafen, wenn Du mir weiteren Schaden zufügst.'
Die anderen Männer begannen jetzt einen vorsichtigen Rückzug, aber Erisichthon tat, als ob er nichts gehört hätte und schlug weiter rücksichtslos auf den Baum ein. Die anderen Nymphen des Waldes, die sich unter der Eiche oft ein Stelldichein gaben und dort in ihrem Schatten zu tanzen und singen pflegten, hatten jedoch inzwischen Demeter verständigt, die sofort hinzueilte, um das Leben der Hamadryade zu retten.
'Was machst du', fragte sie, verkleidet in die Gestalt einer Priesterin. 'Weißt du nicht, dass der Baum mir gehört, den du gerade abholzen willst?'
'Mach die Augen zu, dann siehst du, was dir gehört', antwortete Erisichthon frech. 'Diesen Baum fälle ich, um mir mein Speisezimmer zu bauen, und niemand wird mich daran hindern.'
'So, so', sagte Demeter nur und verwandelte sich zurück in ihre Göttergestalt. Jetzt flüchteten alle Hals über Kopf, aber sie hielt Erisichthon an dem Arm, der die Axt umfasste, zurück. 'Ein Speisesaal soll das also werden? Na gut, dann soll dich alles Essen der Welt in Zukunft nicht mehr sättigen können, das sei deine Strafe für diesen Frevel.'
Und so geschah es natürlich auch." Oinomakes steuerte seinen Esel an den Wegrand. "Aber ich glaube, dass wir selbst eine kleine Mahlzeit vertragen könnten. Und der Esel braucht auch ein wenig Erholung. Dort sehe ich eine Quelle, setzen wir uns dort nieder?"
Ich hatte keinerlei Einwände, auch ich spürte, dass ich ziemlich hungrig war. Ich tauschte ein Stück Brot, das Oinomakos als Wegzehrung mit sich führte, gegen einen Teil des Vogels, den ich gestern Abend gebraten hatte. Zusammen mit dem frischen Wasser wurde es eine ganz hervorragende Mahlzeit. Erst als wir wieder auf dem Wägelchen saßen, bat ich um das Ende der Geschichte.
"Na ja, so viel mehr gibt es nicht zu erzählen", antwortete der Diskusheld. "Erisichthon aß alles auf, worüber er kommen konnte und er scheute kein Mittel um sich Essen zu verschaffen. Bald hatte er sein ganzes Erbe aufgefressen und dann verkaufte er den Rest von seinem Besitz. Aber... klar, die Geschichte von Mestra gehört eigentlich auch dazu."
"Wer ist Mestra", fragte ich neugierig.
"Mestra war die Tochter Erisichthons und sie war das Einzige, was ihm noch verblieben war. Aber er verkaufte schließlich auch sie, als Sklavin an einen Fischer, um über Geld für Essen zu kommen. Aber als Mestra am Strand stand, wo sie Fische ausnehmen sollte, fand sie, dass das gar keine ansprechende Arbeit war. Sie rief übers Meer hinaus, dass Poseidon, der früher ihr Liebhaber gewesen war, ihr jetzt helfen solle - und der Gott erhörte sie. Er schenkte ihr die Gabe der Metamorphose, also sich verwandeln zu können. Mestra verwandelte sich augenblicklich in einen Fischer und verließ unauffällig ihren Arbeitsplatz. Als sie wieder heimgekommen war, fand ihr Vater, dass dies eine außerordentlich gute Lösung war und verkaufte sie wieder. Dann verwandelte sich Mestra erneut, einmal in einen Vogel, dann wieder in ein Pferd, und kehrt wieder heim. Aber eines Tages dauerte es etwas länger, bevor sie heimkam, während Erisichthon hungrig und ohne Essen war. Da begann er sich selbst aufzufressen ..."
Ich wunderte mich ein wenig darüber, dass Demeter eine so schlimme Strafe erteilen konnte, sie war ja sonst gar nicht so böse; aber bevor ich noch meine Überlegungen abgeschlossen hatte, teilte mir Oinomakos mit, dass sein Weg jetzt ins Landesinnere führte, dass ich deshalb wieder zu Fuß weitergehen musste. Nach einem herzlichen Abschied nahm ich meinen Marsch wieder auf, in der Gewissheit, dass ich in spätestens einer Woche zu Hause sein würde.
© Bernhard Kauntz, Västerås 2005
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