DAS TAGEBUCH DES HERAKLES
In Kolchis
Ich weiß nicht, ob Theseus es mit Absicht machte, dass er mir von den weiteren Erlebnissen der Argonauten erzählte. Auf jeden Fall war es, psychologisch gesehen, ganz richtig. Denn auch wenn ich teilnahmslos neben ihm dahinschritt, ohne mich mit einem Wort an der Unterhaltung zu beteiligen, bekam ich doch einen Teil des Erzählten mit. Natürlich war es interessant zu hören, was sie alles erlebt hatten und ich merkte, dass ich mitweilen kurzzeitig sogar nicht an meine schreckliche Tat denken musste.
Am nächsten Morgen machten wir uns früh auf den Weg und Theseus griff seine Geschichte gleich wieder auf.
"Als wir in Kolchis landeten, wurden wir fürstlich empfangen. König Aietes war die Freundlichkeit selbst und bewirtete uns nach bestem Vermögen. Das Einzige, was mich störte, war, dass auch diese Hexe Medea anwesend war. Du weißt ja, dass sie eine Weile mit meinem Vater zusammengelebt hat und dass wir einander nicht ausstehen können. Ganz anders war es bei Jason. Er wendete keinen Blick von der Zauberin und behauptete dann, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen. Ich glaube eher, dass sie ihn irgendwie verhext hat ... Ich war auch von dem Sohn des Aietes, Apsyrtos, nicht allzu begeistert. Er schien mir ziemlich hochnäsig zu sein und machte den Eindruck, dass er diesen Festempfang eigentlich für recht unnötig hielt.
Als Jason nach dem Bankett zur Sache kam und von Aietes das goldene Vlies verlangte, entbrannte eine heftige, wenn auch höfliche Diskussion darüber, wer denn den rechtlichen Anspruch darauf habe. Aietes meinte, dass Phrixos den Widder in Kolchis geopfert habe, dass sein Fell daher natürlich dort bleiben solle. Jason dagegen führte an, dass Phrixos zweifelsohne aus Thessalien stammte, der Widder daher auch griechisches Gut sei. Und überhaupt, wenn Phrixos nicht gerade nach Kolchis gekommen wäre, hätte Aietes das Vlies niemals gesehen. So ging es eine Weile hin und her, bis man eine Lösung fand, die von beiden akzeptiert wurde. Aietes schlug vor, Jason das Vlies zu überlassen, wenn dieser zwei Aufgaben bewältigte. Erstens solle er die beiden feuerspeienden Stiere des Aietes vor den Pflug spannen und mit ihnen das Feld des Ares beackern. Dann solle Jason in das gepflügte Feld Drachenzähne säen, aus denen Krieger hervorwachsen und sich gegen ihn wenden würden.
Viele von uns, darunter auch ich, versuchten Jason abzuraten, denn diese Aufgaben waren schier übermenschlich. Aber Jason meinte, dass er ohne das Vlies ohnehin nicht heimkehren könne. Dann meinten einige, dass wir versuchen könnten, das Vlies mit Gewalt zu entwenden. Aber auch das ließ unser Anführer nicht gelten, weil er der Ansicht war, dass wir einer zu großen Übermacht entgegenstehen würden. Also akzeptierte er die Forderungen des Aietes."
Hier ertappte ich mich dabei, meine Chancen abzuwägen, wäre ich an Jasons Stelle gewesen. Aber auch ich gestand mir ein, dass nur ein Wahnsinniger hoffen konnte, diese Aufgaben zu erfüllen. Bei dem Wort "Wahnsinniger" kehrten meine Gedanken schnell und schmerzhaft wieder zu meiner Gräueltat zurück und ich überhörte die nächsten Sätze meines Freundes.
"... Medea verdanken. Sie gab ihm nämlich heimlich ein Öl, mit dem er sich einschmieren solle, damit ihm der feurige Atem der Stiere nichts anhaben könne. Außerdem gab sie ihm den Rat, einen Stein zwischen die bepanzerten Krieger zu werfen, die aus der Drachensaat entstehen würden.
Am folgenden Morgen sollte die Kraftprobe beginnen. Wir hatten in dieser Nacht kaum geschlafen, das galt nicht zuletzt auch Jason. Noch vor Sonnenaufgang polierte er seine Waffen und rieb seinen ganzen Körper mit dem Öl der Zauberin ein. Dann gingen wir alle gemeinsam zum Stall, wo die Stiere eingeschlossen waren. Auch Aietes war mit seinem Gefolge schon eingetroffen und hatte sich hinter einem Zaun verschanzt, um vor den wilden Bestien sicher zu sein. Uns gewährte man dort keinen Platz, sondern wir mussten vom offenen Feld aus zusehen.
Auf ein Signal des Königs entriegelte ein Diener die Stalltüren und rannte dann wieder eilig in Deckung, während Jason das Tor öffnete. Er schien ganz ruhig zu sein, aber ich erinnere mich an seinen Blick, den er uns zuwarf. Es war ein Gemisch aus Hoffnung und Verzweiflung.
Ein Gebrüll, das Tote erwecken konnte, erscholl in dem Augenblick, als das Tor aufschwang. Ein mächtiges Tier stand gleich darauf in der Öffnung, eine geballte Ladung Energie, die wirklich furchteinflößend war. Sein kräftiges Schnauben erfüllte die Luft und fast so lautstark war der Aufschrei der Zuschauer, als dabei flammendes Feuer aus den Nüstern schoss.
Jason zuckte zurück, als ihn die Flammen trafen, doch schon in der nächsten Sekunde schien er sich gewiss zu sein, dass ihm das Feuer wirklich nichts anhaben konnte. Er ging zum Angriff über, gerade als der Stier sein Haupt senkte, um seinerseits anzugreifen. Aber da donnerte ihm schon Jasons Keule auf den Kopf, mit solcher Wucht, dass die Keule zerbarst und der Stier benommen in die Knie brach."
Theseus hielt inne - ich aber war von seinem Bericht so mitgerissen worden, dass ich nun seit Tagen die ersten Worte sprach.
"Und der zweite Stier", fragte ich, völlig überrascht von mir selbst, weil die Frage ganz ungewollt gekommen war. Vielleicht soll ich lieber unerwartet sagen, weil das eher zutrifft. Auch Theseus drehte seinen Kopf rasch in meine Richtung, sah mich an und nickte befriedigt.
"Das zweite Tier war inzwischen auch aus dem Stall gekommen und war gerade dabei, Jason von hinten anzugreifen. Ich glaube, jeder von uns schrie auf, um Jason zu warnen, doch der hatte die Gefahr schon erkannt und wirbelte im letzten Augenblick zur Seite. Nachdem er sich jedoch noch gerade vor dem zusammengebrochenen Tier befand, stolperte dessen Artgenosse über die Beine des ersten Stiers und knickte selbst mit den Vorderbeinen ein. Im Nu war Jason wieder dort. Was jetzt folgte, war höhere Akrobatik. Er ergriff den Stier an den Hörnern und ließ sich, als dieser zornig den Kopf hochwarf, vom Schwung mitreißen, sodass er auf den Rücken der Bestie geschleudert wurde. Noch im Flug vollführte Jason eine Drehung und als das Tier wieder auf die Beine gekommen war, saß ihm Jason schon im Nacken und hatte von hinten die Hörner umklammert.
Natürlich versuchte der Bulle Jason abzuschütteln, doch ohne Erfolg. Er tobte und rannte wild umher, aber Jasons Griff lockerte sich nicht. Erst als der Stier ganz ermattet war, sprang Jason von seinem Rücken ab und konnte ihn nun einfach vor den Pflug spannen. Beim zweiten gab es auch keine Probeleme, denn Jason nutzte die Benommenheit des Tieres, als es gerade wieder aufwachte. Damit war die erste Aufgabe erfüllt, denn das Feld zu pflügen hätte dann jeder von uns geschafft."
Theseus sah mich wieder von der Seite an, aber ich sagte nichts. Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander, dann erzählte mein Freund über die Geschehnisse des Nachmittags.
"Beim Mittagessen gratulierten wir natürlich alle zu Jasons enormer Leistung, aber einige brachten auch den Einwand vor, dass die Bezwingung der Stiere vielleicht doch die einfachere Arbeit gewesen sein könne. Ob Jason denn wisse, wie viele Drachenzähne er säen musste?
'Nein, das weiß ich nicht', antwortete der Held des Tages. 'Aber so wie mich Medeas Zauberöl vor dem Feuer beschützt hat, so wird mich ihr Trick auch bei den Kriegern beschützen.'
Klarerweise bestürmten wir ihn mit Fragen über diesen Trick, doch Jason blieb unerbittlich. Also mussten wir uns gedulden, bis Jason am Nachmittag den zweiten Teil der Aufgabe ausführte. Zunächst bekam er von Aietes einen Beutel mit wohl über hundert Drachenzähnen. Jeder Mensch musste begreifen, dass niemand diese Aufgabe bewältigen konnte. Wir konnten nur hoffen, dass Medeas geheimnisvoller Trick wirklich half. Jason ging inzwischen ganz gelassen die Ackerfurchen ab und verstreute lächelnd die Zähne.
Es dauerte gar nicht lange, bevor sich die Erdschollen teilten und gepanzerte und schwer bewaffnete Männer hervorwuchsen, mit dem Kopf voran die Erde durchstoßend. Jason stand lächelnd am Rand des Feldes, auch als die ersten Krieger ihm schon entgegenkamen. Da bückte er sich, nahm einen faustgroßen Stein und schleuderte ihn in die Mitte des Ackers. Wie auf ein Kommando machten die gespenstischen Soldaten kehrt und fielen übereinander her, bis keiner mehr am Leben war.
Als Jason dann vor Aietes trat und das goldene Vlies forderte, warf ihm der König vor, er habe Magie betrieben und nur deshalb die Forderungen erfüllen können.
'Aber ich stehe zu meinem Wort', sagte Aietes lächelnd. 'Du kannst dir das Fell morgen selbst holen, es hängt am Eingang zum Areshain, zwischen zwei Bäumen aufgespannt. Du musst nur erst den Drachen besiegen, der das Vlies bewacht.'
Das schien im Vergleich eine einfache Aufgabe zu sein, also sagte Jason zu, dass er noch bis am nächsten Tag warten würde."
© Bernhard Kauntz, Västerås 2005
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