DAS TAGEBUCH DES HERAKLES
Die Heimreise der Argonauten
Als wir in Athen den Königspalast betraten, fiel mir ein, dass es gar nicht so lange her war, seit ich mit Hylas diese Stufen emporgestiegen war, um Theseus für die Fahrt mit den Argonauten zu gewinnen. Aber wieviel war inzwischen geschehen!
Mein Freund sah dazu, dass ich ein warmes Bad bekam, um den Staub der Reise abwaschen zu können, und holte mich später in meinem Zimmer ab. Wir gingen schweigend zum Hausaltar, wo Theseus das Opfer für die Erinnyen schon vorbereitet hatte. Er entzündete die Opfergaben und wusch mich dann, dem Ritual gemäß, langsam betend von meiner Schuld frei. Es war ein sonderbares Gefühl, denn obwohl die Trauer in mir weiterhin schmerzte wie zuvor, fühlte ich mich dennoch irgendwie befreit, ein wenig leichter ums Herz. Die ganze Zeremonie war auch so ergreifend, dass ich die Tränen nicht zurückhalten konnte. Nachher war ich ein wenig entspannter, aber auch so ausgelaugt, dass ich Theseus bat, das Abendessen auslassen zu dürfen. Mein Freund nickte verständnisvoll und brachte mich auf mein Zimmer zurück. Als ich mich bald danach ins Bett legte, schlief ich sofort ein und erwachte am nächsten Tag erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Aber zum ersten Mal verspürte ich wieder einen winzigen Hoffnungsschimmer, als ich an meine Zukunft dachte.
Die weiteren Erlebnisse der Argonautenreise hörte ich daher erst am nächsten Tag nach dem Mittagessen, als wir uns im Palastgarten ein schattiges Plätzchen gesucht hatten, um ein wenig die Seele baumeln zu lassen.
"Wir fuhren den ganzen Fluss hinab", begann Theseus, "was stromabwärts keine Mühe bedeutete. Aber nach den Anstrengungen der letzten Tage hatten wir auch eine Erholung nötig. Der Fluss führte mehr oder weniger genau in südlicher Richtung, bis er ins Meer mündete, wo wir uns jetzt ostwärts halten mussten. Aber noch bevor wir weitersegelten, hatten wir das Glück, in einer kleinen Niederlassung einen Griechen zu treffen, der aus der Argolis stammte. Er erklärte uns den Weg nach Hause, sagte, dass wir erst ein großes Land umrunden mussten, bevor wir die Heimat wiedersehen konnten. Er erzählte auch von einer großen Zauberin, bei der wir am Heimweg vorbeifahren mussten.
Wir hielten uns nicht lange auf, denn inzwischen hatten die meisten von uns genug Abenteuer erlebt, wenigstens für den Augenblick. Ein paar Tage später sahen wir schon die Felsenhöhlen, wo Kirke, die Zauberin, ihr Domizil hatte. Medea wollte unbedingt dort vorbeifahren, um sich von ihrer Bluttat entsühnen zu lassen. Kirke ist nämlich ihre Tante, eine Schwester ihres Vaters. Ich bezweifelte zwar, dass sich die Zauberin über den Besuch freuen würde, weil sie wohl eher die Partei ihres Bruders ergreifen musste, wenn sie den Tathergang erfuhr. Medea hingegen war sehr zuversichtlich.
Wir rieten Jason von diesem Besuch ab. Kirke konnte ja auch ihm gegenüber nicht sehr gewogen sein, ja, sie würde vielleicht mit ihrer Zauberkraft sogar das goldene Vlies zurückstehlen, um es ihrem Bruder wieder zu geben. Aber Jason war jetzt Medea vollkommen verfallen. Er hörte kaum auf unsere Einwände, begnügte sich aber damit, Medea allein zu begleiten, während wir anderen auf dem Schiff das Vlies bewachen sollten. Daher weiß ich nicht genau, was auf der Insel geschah, Jason sprach nicht viel darüber. Kirke war anscheinend wirklich nicht gut auf ihn zu sprechen gewesen, denn sie hatte ihn wie Luft behandelt, erwähnte er jedoch einmal. Aber Medea wurde von ihrer Tante entsühnt. Sie bekam auch zwei Ratschläge, wie wir drohenden Gefahren entkommen konnten, denen wir noch ausgesetzt sein würden."
Theseus unterbrach seine Erzählung und sah mich nachdenklich an. Kopfschüttelnd meinte er dann:
"Das ist schon wieder etwas, das wir Medea indirekt verdanken ... Wären wir nicht dem Rat ihrer Tante gefolgt, wären wir vermutlich gar nicht nach Hause gekommen. Wir mussten nämlich an den Inseln der Sirenen vorbeifahren. Die vier Sirenen, halb Frau, halb Vogel, sind Töchter des Flussgottes Acheloos und der Muse Melpomene - oder ist es Terpsichore?"
Theseus zögerte einen Augenblick, dann zuckte er die Schultern.
"Ich weiß es nicht mehr genau, eine der beiden war es. Auf jeden Fall sind die Sirenen Wesen, die so wunderbar singen, dass ihnen niemand widerstehen kann. Die Schiffe folgen der lieblichen Musik und zerschellen dann an den spitzen Klippen, die die Insel umgeben. Die armen Seeleute werden dann von den Sirenen verspeist.
Nun, Kirke hatte uns geraten, dass Orpheus mit seinem Gesang dagegen halten solle, er habe die Gabe, die Sirenen zu übertönen. Er machte seine Sache auch ganz ausgezeichnet. Leider stand Butes als Ausguck ganz vorne am Bug, während der Wind die Klänge von Orpheus Gesang nach hinten trug. Irgendwann wurden für ihn die Lieder der Sirenen stärker und er sprang über Bord. Wir wagten es nicht, ihn wieder herauszufischen, aus Angst, dass noch mehrere von uns in Versuchung geführt würden."
Mir war zwar nicht ganz klar, wie man einen Freund einfach den Wellen überlassen konnte, aber ich sagte nichts. Zum Glück war er gerettet worden, wie mir Theseus gleich darauf schilderte.
"Das zweite Problem, dem wir uns bald darauf gegenübergestellt sahen, war eine Meeresenge. Auf der einen Seite befand sich die Skylla, die ja von Kirke in ein Ungeheuer verwandelt worden war. Ein bisschen zu nahe heran und die Hundeköpfe ihres Unterleibes würden unter uns ein grausames Mahl als Tribut fordern. Das Problem bestand darin, dass wir, wollten wir sicheren Abstand halten, auf der anderen Seite vom wilden Strudel der Charybdis erfasst und damit unfehlbar in die Tiefe gezogen werden würden.
Kirke hatte uns den Rat gegeben, uns näher an Skylla heranzuwagen. Das Ungeheuer konnte nämlich schlimmstenfalls sechs Männer ergreifen. Kämen wir dagegen der Charybdis zu nahe, wäre es um uns alle geschehen. Doch noch bevor wir eine Entscheidung treffen mussten, kam Thetis, von Hera gesandt, um das Steuer zu übernehmen und uns sicher durch die Gefahr zu geleiten. Thetis erzählte uns auch, dass Butes weder dem Meer, noch den Sirenen zum Opfer gefallen war. Er wurde von Aphrodite aus dem Wasser gefischt und bekam die Aufgabe, auf einer neheliegenden Insel eine Stadt zu gründen."
Ein Sklave kam und holte Theseus, weil er bei einer wichtigen Amtshandlung gebraucht wurde. Achselzuckend entschuldigte er sich und verschwand in Richtung Palast.
© Bernhard Kauntz, Västerås 2005
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