Des Genitivs Schwanengesang

Wer sagt heute noch: “Der Brief liegt auf dem Schreibtisch meines Vaters”? Das wird doch meistens mit “von meinem Vater” ersetzt, besonders beim Sprechen. Wenn es nicht sogar zu “auf meinem Vater seinem Schreibtisch” wird.

Letzteres ist falsch, hat aber – geschichtlich gesehen – eine Erklärung. Als man den Genitiv noch öfter verwendete, war es durchaus möglich zu sagen. “Der Brief liegt auf meines Vaters Schreibtisch”. Goethe und Schiller haben das wohl noch getan. Inzwischen ist aber auch unsere Sprache dabei, ihre Feinheiten zu verlieren.

Die Feinheiten liegen eben in der Beugung, der Flexion einer Sprache. Das Gegenteil von flektierenden Sprachen sind isolierende Sprachen. Die haben kaum noch Beugungen, zum Beispiel Englisch. Denken sie nur an die Beugung der Zeitwörter (Ha! Ein Genitiv). In der dritten Person Einzahl (he, she, it) setzt man noch ein -s ans Ende des Wortes (Schon wieder einer!). Oder denken Sie an den einzigen Artikel, den man verwendet. “The” ist die Lösung aller Probleme ...

Das ist zwar einfach für den, der Englisch lernen will, aber sprachlich gesehen ein Nachteil. Stellen sie sich folgende Szene vor: Die Mutter ist in die Küche gerannt, weil die Katze mit einer Maus ins Haus gekommen ist. Nach einer Weile ruft sie zu ihrem Sohn im Wohnzimmer: “Frisst die Katze die Maus?” Es ist aber eine sehr jagdbegeisterte Katze, die die Maus vergessen hat und sich gerade den Goldfisch aus dem Aquarium geangelt hat, dem sie soeben den Kopf abbeißt. Daher antwortet der Sohn wahrheitsgetreu: “Nein! Den Fisch frisst die Katze”. Nachdem er betonen will, dass es der Fisch ist, dem die Katze jetzt ihre Aufmerksamket widmet, betont er natürlich den Fisch. Daher stellt er ihn an den Anfang des Satzes. (Noch ein Genitiv!) Und jeder, auch die Mutter, die die Katze ja nicht sieht, weiß, was gemeint ist.

Jetzt stellen Sie sich dasselbe in Englisch vor: Die Mutter ruft, hoffnungsvoll, damit sie den Mord nicht mitansehen muss: “Did the cat eat the mouse?” Und der Sohn, noch immer wahrheitsgetreu, schreit zurück: “No! The fish ate the cat!” Da muss es aber schon ein Haifisch sein ...

So ist es, wenn man die Beugungen verliert. Auf gut Deutsch, oder noch besser, ist man des Lateinischen mächtig, kann man die Wortfolge beliebig drehen – in isolierenden Sprachen geht das nicht, ohne den Inhalt auch zu verdrehen.

Genug der Beispiele.

Um allen Genitivfreunden ein wenig Hoffnung zu geben, möchte ich zeigen, dass der Genitiv immer noch lebt, zum Beispiel in einer Blume, im Vergissmeinnicht. Das “mein” ist nämlich eine Kurzform von “meiner” und meiner ist in diesem Fall auch ein Genitiv. Abseits der Blume ist er jedoch auch hier schon verwelkt, denn, sagte man zur Liebsten “vergiss meiner nicht”, dann wäre das wohl das Erste, was sie täte, weil sie mich für verrückt hielte.

Aber ich gebe Ihnen meinetwegen noch ein Beispiel. Meinetwegen ist nur eine Abschleifung von “meiner wegen” – und da ist er ja wieder, der Genitiv. Abschleifungen geschehen oft in einer Sprache, wenn die Aussprache dadurch leichter wird. Probieren Sie es doch selbst: meiner wegen – meinetwegen. “Wegen” stand ursprünglich immer mit dem Genitiv, also auch “wegen meines Vaters”, “wegen des Krankheitsfalles” und so weiter.

Eingedenk dessen hoffe ich, dass Sie unterdessen eingesehen haben, dass die deutsche Sprache verarmt, sollten Sie sich nicht bemühen, die Grenzen des Dativs aufzuzeigen und fortan die Formen des Genitivs zu verwenden und zu genießen.

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås 2017



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