DAS TAGEBUCH DES HERAKLES
Deukalion
Hebe löffelte den letzten Rest der Ambrosia auf und lehnte sich dann mit einem zufriedenen Lächeln zurück. Ich hatte mir noch nicht einmal die Hälfte dieser Götterspeise einverleibt, dennoch schien es mir, als ob ich innerlich glühte. Aber es war ein durchaus angenehmes Gefühl, nicht wie wenn man sich warm und verschwitzt fühlt. Letzteres wurde ich eher, wenn ich meine hübsche Halbschwester betrachtete, die, mit hochgezogenen Beinen halb auf der Couch liegend, mich auch ansah.
"Geht es dir jetzt gut", fragte sie grinsend, wie um zu zeigen, dass ich gar nicht antworten brauchte. "Nach der Ambrosia tut es gut, sich ein wenig Ruhe zu gönnen und zu genießen. Diese Zeit ist wie geschaffen dafür, Geschichten zu erzählen. Willst du noch eine hören?"
"Logisch", lächelte auch ich. "Ich könnte dir in alle Ewigkeit beim Geschichtenerzählen zuhören."
"Schau, schau", spöttelte sie, "mit welchen Komplimenten mein kleiner Bruder herumwirft." Aber ich konnte es ihr ansehen, dass sie sich geschmeichelt fühlte.
"Du kannst doch erzählen, wie das bei der Sintflut war", bat ich sie. "Das war doch auch eine Strafe für die Menschen, nicht wahr? War denn alles Elend aus der Büchse der Pandora nicht genug?"
"Nein, wenigstens war unser Vater anderer Ansicht. Aber weißt du, ich glaube, dass das bei ihm eine Prinzipfrage war, weil er Prometheus übertreffen wollte. Besonders seit Prometheus begonnen hatte, das Menschengeschlecht selbst zu erschaffen."
"Was denn, Menschengeschlecht?" Ich unterbrach, weil hier kam ich nicht ganz mit. "Es hat doch schon früher Menschen gegeben?"
"Njaein." Sie dehnte das Wort, während sie nachdachte. "Weißt du, eigentlich war Pandora der erste richtige Mensch, der erschaffen wurde. Sicher, wir hier heroben nannten alle Menschen, die auf der Erde lebten, aber das ist eigentlich falsch, denn die, die anfangs dort lebten, waren ja Titanen, genau wie wir selber. Die hatten ja dieselbe Abstammung wie wir. Aber Prometheus hatte ja zugesehen, wie Pandora erschaffen wurde, und dann begann er selbst, Menschen aus Lehm zu formen. Er überredete Athene, ihnen Leben einzuhauchen. Und das gefiel Zeus überhaupt nicht, er hatte wohl Angst, dass die neuen Menschen ihren Schöpfer höher achten würden, als ihn selbst. Deshalb gab es ständigen Streit darüber."
"Mhm, ich verstehe", sagte ich, obwohl ich eigentlich nicht so sicher war, dass ich verstand. Ich würde wohl in den alten Geschichtsbüchern nachlesen müssen, wenn ich wieder auf die Erde hinunterkam. "Und deswegen ließ Zeus die Sintflut kommen?"
"Ja, mehr oder weniger. Aber anfangs waren viele der wichtigeren Götter dagegen, ich nehme an, dass Prometheus ein wenig Lobbying betrieb... Deshalb beschloss Zeus - starrköpfig ist er ja - selbst Beweise für die Schlechtigkeit der Menschen zu finden und begab sich auf die Erde, als Mensch verkleidet.
Als er dann ins Königreich des Laokon kam, wurde er vom König verhöhnt, obwohl er schließlich zu erkennen gab, wer er eigentlich wirklich war. Daraufhin ließ Laokon es auf eine Probe ankommen und erschlug seinen eigenen Enkel, Arkas, den Zeus zusammen mit Kallisto gezeugt hatte, und servierte ihn zum Abendessen. Natürlich merkte Zeus, was da gespielt wurde und ließ seinem Zorn freien Lauf. Er verwandelte Laokon auf der Stelle in einen Wolf. Dan stieg er selbst schnurstracks zum Olymp hinauf und rief eine Großversammlung ein. Und mit dieser Schandtat als Beweis konnte er die Mehrzahl dafür gewinnen, dass die Menschheit ausgerottet werden musste."
Hebe war eine ausgezeichnete Erzählerin. Ihre sanfte Stimme konnte sich in blanken Stahl verwandeln, wenn es notwendig war und auch die Betonung half dazu. Sie sagte zum Beispiel 'Wolfff' und 'schschschnurstracks' um die Worte zu unterstreichen. Jetzt sprach sie weiter:
"Erst wollte Zeus alles mit seinen Blitzen verbrennen, aber die, die weniger heiß waren, als er, hinderten ihn daran. Man hatte Angst, dass der ganze Äther Feuer fangen könnte, das wäre auch für uns das Aus gewesen. Da kam er schließlich auf die Idee mit dem Wasser. Er redete mit Poseidon, der versprach, mit Flutwellen dazuzuhelfen, während Zeus seinerseits alle Winde einsperrte, damit sie nicht die Wolken zerblasen konnten. Nur Notus, der Südwind, bekam den Auftrag, die Wolken vom Meer über das Land zu treiben und es ununterbrochen regnen zu lassen."
Hebe machte eine Pause und lachte leise. Dann sagte sie:
"Eigentlich gibt es hier ja nichts zu lachen, aber ich kann es nicht bleiben lassen, Prometheus zu bewundern, der auch hier einen Ausweg gefunden hatte. Die Großversammlung hatte ihm nämlich gestattet, seinen eigenen Sohn, Deukalion, und dessen Frau Pyrrha, die übrigens eine Tochter der Pandora war, zu retten. Darauf wollte nun Zeus überhaupt nicht eingehen, aber da stellte Prometheus eine Frage an alle, ob jemand ein einziges Beispiel dafür finden konnte, dass einer der beiden nicht die Gebote der Götter befolgt hätte, oder dass einer von ihnen ein einziges Mal ungerecht gewesen sei. Keiner konnte sich daran erinnern, deshalb beschloss man, dass die zwei der Sintflut entkommen sollten. Prometheus durfte sie warnen und sie ein Schiff bauen heißen."
Hebe stand auf.
"Und weil wir schon von der Großversammlung reden, ist es jetzt Zeit, dass auch wir hingehen. Komm, ich erzähle dir den Rest auf dem Weg."
Draußen am Gang hakte sie sich bei mir ein und erzählte weiter, während wir gingen:
"Es regnete neun Tage lang und Poseidon schickte massenhaft Wasser ins Land, sodass schließlich nur die Spitzen des Parnass aus dem Wasser ragten. Dorthin steuerten sie auch die Arche. Als das Wasser dann wieder gesunken war und Deukalion und Pyrrha einsahen, dass sie jetzt ganz allein auf der Welt waren, wurden sie ganz unglücklich. Sie beschlossen, das Orakel der Themis zu befragen, was sie jetzt tun sollten. Als Antwort bekamen sie, die Gebeine ihrer Mutter hinter sich zu werfen. Sie überlegten eine Weile und schließlich konnte Deukalion die Antwort deuten. Ihre Mutter war natürlich die Erde und deren Gebeine mussten die Steine sein, die herumlagen. Sie begannen, die Steine über die Schulter zu werfen und aus diesen entstanden neue Menschen. Aus den Steinen des Deukalion wurden Männer und aus denen von Pyrrha Frauen.
Beccafumi: Deukalion und Pyrrha
Später bekamen die beiden auch einen Sohn auf natürliche Art, den sie Hellen tauften. Er wurde dann der Stammvater der Hellenen. Zur Sache gehört auch, dass Zeus den Arkas natürlich wieder zum Leben erweckte, was später fast zu einer anderen Tragödie führte, aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte."
Hebe zeigte den Gang entlang.
"Da vorne ist schon der große Versammlungssaal. Du sitzt am besten neben mir, damit du dich ein wenig sicherer fühlst und nicht allzu demütig wirst, unter all diesen Göttern...."
Das war ja genau, was ich von Anfang an wollte. Dankbar drückte ich ihren Arm, während wir uns in den hinteren Regionen des bisher fast leeren Saales niederließen. Nur ein paar Nymphen hatten sich bisher eingefunden.
© Bernhard Kauntz, Västerås 1999
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