DAS TAGEBUCH DES HERAKLES
Die Großversammlung
Es dauerte aber dann gar nicht lange, bevor sich der Saal zu füllen begann. Hebe flüsterte mir die Namen der Eintretenden zu und auf welchem Gebiet sie tätig waren. Ich war dankbar dafür, aber ich konnte mir nur ein paar Namen davon merken und noch weniger sie auch mit der richtigen Person kombinieren. Da gab es Flussgötter und Bergnymphen, Meereswesen verschiedendster Art, Windgottheiten, aber vor allem natürlich die großen Namen, von denen mir einige allerdings schon begegnet waren. Da war Hermes wieder, mit seinen lustigen Augen, in denen stets ein schalkhafter Blick zu finden war, da war Ares in voller Bronzerüstung, mit Wippfedern am Helm. Auch Pallas Athene hatte ihre Rüstung an; sie setzte sich ganz vorne neben die unscheinbare Hestia, in grauem Kittel, die dennoch eine der wichtigsten Aufgaben hatte, nämlich das Herdfeuer der Menschen nicht verlöschen zu lassen. Dionysos war da, den Hera genau so wenig mochte, wie mich, und bald war auch der ganze, große Saal bis auf den letzten Platz besetzt.
Und dann kam Vater zur Tür herein. Das Gemurmel, das bisher den Saal durchflutet hatte, hörte plötzlich auf, alle Köpfe wendeten sich nach links und hunderte Augenpaare folgten Zeus auf dem Weg nach vorne, zum Podium. Er hielt einen seiner Donnerkeile in der Hand und schüttelte ihn, als er hinter das Rednerpult trat. Nach dieser mächtigen Einleitung sagte er:
"Götter und Göttinnen! Wir alle wissen, warum diese Großversammlung stattfindet. Die Giganten, unterstützt von Gaia, sind auf bestem Weg, sich gegen uns zu erheben, und es ist wohl nur noch eine Frage von Stunden, bevor der Gigantenkampf ausbricht. Wir haben, wie uns das Orakel gesagt hat, alle Mögllichkeit, die Giganten zu besiegen, doch nur wenn ein Sterblicher auf unserer Seite kämpft. Deshalb habe ich nach einem Sterblichen gesandt. Herakles, mein Sohn, tritt vor!"
Jetzt bekam ich doch wahrhaftig Bauchweh. Was denn? Sollte ich mich, vor all diesen Göttern, an seine Seite stellen? Aber mir blieb wohl keine Wahl, um so weniger, als mich Hebe schon in die Rippen stieß.
"Na, geh schon", zischte sie, und verpasste mir noch eine in die Seite. Auf zittrigen Knien erhob ich mich und bedauerte jetzt, dass wir uns so weit hinten niedergelassen hatten. Denn so wie vorher wendeten sich alle Köpfe nach links und hunderte Augenpaare starrten mich an und verfolgten meine, wie es mir schien, stolpernden Schritte nach vorne. Auf der Treppe zum Podium wäre ich beinahe hingefallen, weil ich auf einer Stufe mit den Zehen hängenblieb, konnte aber in letzter Sekunde noch den Ausrutscher parieren. Endlich stand ich neben meinem Vater, aber jetzt musste ich mich dem Saal zuwenden und Angesicht zu Angesicht mit all diesen Göttern stehen. Ein leichtes Schwindelgefühl ergriff mich und ich war dankbar dafür, dass mir Zeus seinen Arm um die Schultern legte, und mich so ein wenig stützte.
"Mein Sohn - Herakles", annoncierte mein Vater dramatisch, während er mit der Hand, in der er den Donnerkeil hielt, auf mich zeigte. Jetzt begannen alle auch noch zu applaudieren... Der Saal begann sich zu drehen, aber ich nahm all meine Beherrschung zusammen, um meine Hand zu heben und der Menge zuzuwinken. Zum Glück raunte mir mein Vater jetzt, mitten in den Beifallsbezeigungen, zu:
"So, jetzt haben dich alle gesehen, jetzt kannst du dich wieder niedersetzen."
Fast hätte ich gesagt 'Gott sei Dank', aber ich beherrschte mich gerade noch rechtzeitig. Je weiter ich vom Podium wegkam, desto sicherer wurden meine Schritte wieder. Und als mich Hebe ganz selig anlächelte und meinte:
"Toll, hast du ausgesehen, wie du so gewinkt hast", da fand ich fast Gefallen an der Sache. Inzwischen war Zeus in seiner Ansprache fortgefahren. Er ermahnte alle, den kommenden Kampf ja nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, nur weil der Orakelspruch uns den Sieg versprochen hatte. Er sagte auch, dass wir mit jeder List rechnen müssten, zu der die Gegner fähig waren und dass wir sie uns am liebsten vom Leib halten und sie aus der Ferne töten sollten, wenn das nur möglich war.
"Ich habe ein paar Bilder mitgebracht, die ich euch jetzt zeigen möchte", sprach er und gab einem jungen Flussgott in der ersten Reihe ein Zeichen, dass er das erste Bild aufrollen solle. "Das ist Ephialtes", erklärte Zeus, als das Bild entrollt war und hochgehalten wurde. "Vorsicht! Er sieht jedes Detail auf weite Entfernung und außerdem hat er ganz unwahrscheinliche Kräfte." Das Bild zeigte ein Ungeheuer, mit Augen, die so groß wie Teller waren.
Dann kamen Bilder von ganz furchtbaren Monstern, struppig, fellig, einige hatten an die hundert Arme oder Beine, andere hatten Schlangen als Beine, kurz jede Ausgeburt des Tartaros schien vertreten zu sein. Ich konnte mir auch nicht all die Namen merken, die jetzt genannt wurden - aber das war vielleicht auch nicht der Sinn der Sache. Ich glaube, dass Zeus mit diesem Vortrag zwei Zwecke verfolgte. Erstens wollte er uns diese schrecklichen Wesen jetzt zeigen, damit wir später nicht von dem grauenhaften Anblick überrascht wurden und zweitens wollte er uns vor Augen führen, dass es die Giganten wirklich gab, sodass uns der bevorstehende Kampf greifbarer wurde.
Wie dem auch immer sei, ich ging nach der Versammlung ziemlich nachdenklich auf mein Zimmer, sozusagen auf den Boden der Tatsachen gestellt. Das würde wahrlich keine Spielerei werden, wenn diese Gewalten erst einmal freigesetzt waren. Ich träumte dann sogar von furchterregenden Gestalten, die menschliche Knochen in der Faust zu Sand zerrieben...
© Bernhard Kauntz, Västerås 1999
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