DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Das goldene Vlies


Schön. Da kommt also ein unbekannter, junger Mann, erzählt eine wilde Geschichte und will, dass ich mich mit ihm auf Abenteuer begebe....

Ich drehte ein wenig an dem Stock über dem Feuer, auf den wir das Fleisch des Hirschen gespießt hatten, während ich nachdachte. Klar, das Wort 'Abenteuer' an sich hatte ja einen verlockenden Klang, aber trotzdem. Es würde bedeuten, dass ich wieder von zu Hause weg musste.... Auf jeden Fall wollte ich mehr darüber wissen. Ich wendete mich an Jason:

"Was ist das goldene Vlies eigentlich, wo befindet es sich und warum wird es schwierig sein, es zu holen? Wie kommen wir hin und wer kommt mit?"

Jason hielt wie zu einer Verteidigung die Hände hoch, und lachte:

"Ja, ja. Ich verstehe durchaus, dass du eine Menge Fragen hast. Aber gib mir eine Chance und lasse mich sie einzeln beantworten. Aber wieder würde ich gern mit dem Hintergrund anfangen."

"Selbstverständlich", nickte ich und er erzählte:

"König Athamas hatte zusammen mit seiner Gattin Nephele zwei Kinder bekommen. Der Junge hieß Phrixos und der Name des Mädchens war Helle. Aber als die Kinder gerade erst um die zehn Jahre alt waren, verliebte sich Athamas in eine Frau, die Ino hieß. Er verstieß Nephele und heiratete seine neue Liebe. Aber es ging gleich von Anfang an schief zwischen Ino und den Kindern. Sie plagte und strafte sie, wann immer sich nur eine Gelegenheit bot. Natürlich hörte Nephele von all dem Übel, das die Kinder zu erdulden hatten, aber sie konnte nichts dagegen tun, weil es ihr verboten war, den Palast zu betreten. Zu guter letzt, als das Gerücht schon davon sprach, dass Ino den Kindern nach dem Leben trachtete, wurden die Gebete der Mutter von Hermes erhört. Er schickte ihr einen fliegenden Widder, dessen Fell ganz und gar goldfarben war, und trug ihr auf, die Kinder auf seinen Rücken zu setzen, sobald sie die Möglichkeit hatte, in ihre Nähe zu kommen."

Jason räusperte sich und trank einen Schluck Wein aus seinem Becher, bevor er weitersprach.

"Nephele hatte Glück. Schon am nächsten Tag durften die Kinder im Freien auf einer Wiese spielen, die an den Wald grenzte, in dem die Mutter den goldenen Widder versteckt hatte. Als die Kinder weit genug von ihren Bewachern weg waren - ja, offiziell wurden sie wohl Gouvernanten genannt - da winkte Nephele sie heran, umarmte sie ein letztes Mal und half ihnen auf das Tier hinauf, das gerade rechtzeitig wegflog, bevor die Flucht verhindert werden konnte."

Jason war wirklich ein guter Erzähler. Sein Minenspiel und seine Körpersprache ergänzten ganz ausgezeichnet das gesprochene Wort.

"Den Rest der Geschichte kennt man nur durch Hörensagen, aber es sind mehrere, voneinander unabhängige Angaben gekommen, vor allen Dingen von den Skythen, die übereinstimmen, sodass der Kern der Erzählungen vermutlich wahr ist. Deshalb haben wir Anhaltspunkte, wenn wir versuchen, das Fell zu holen...
Auf der Reise der Kinder geschah ziemlich schnell ein großen Unglück. Helle, die hinter ihrem Bruder saß, konnte ihre Neugier nicht mehr zügeln, sondern sah auf die Erde hinunter, als sie hoch oben am Himmel dahinflogen. Davon wurde ihr aber schwindlig, sie verlor ihren Halt, fiel ins Meer hinunter und ertrank. Der Platz an dem das Unglück geschah heißt seither der Hellespont, was ja eben "das Meer der Helle" bedeutet."

Mit einem Stäbchen kontrollierte ich das Fleisch, das über dem Feuer hing und spürte, dass es schon gar war. Wir nahmen das Fleisch vom Feuer und schnitten dann gut bemessene Portionen ab, die wir auf unsere Teller legten. Es schmeckte auch ausgezeichnet und Jason bekam eine wohlverdiente Pause beim Erzählen.

Aber sobald die Mahlzeit verüber war und die Essutensilien weggeräumt waren, füllte ich unsere Weinbecher auf und fragte weiter:

"Was geschah mit Phrixos, als er dann allein war?"

Und Jason zögerte nicht, den Faden wieder aufzugreifen.

"Phrixos landete dann in Kolchis, in der Nähe der Hauptstadt Aia. Dort opferte er den Widder den Göttern und spannte das goldene Vlies zwischen zwei Bäumen in einem heiligen Hain auf, der dem Ares geweiht war.
Ab nun gibt es zwei Varianten der Erzählungen. Die eine besagt, dass König Aietes den jungen Phrixos ganz herzlich empfing, aber dass dieser bald vor Heimweh und Kummer starb. Die zweite Version behauptet, dass Aietes überhaupt nicht gastfreundlich war, sondern dass er Phrixos aus dem Weg räumte, um an das goldene Vlies zu kommen.
Aber wie dem auch immer sei, so hat der König einen Drachen als Bewacher des Vlieses eingesetzt, ein Untier, das keinen Schlaf braucht. Das tat er, nachdem ihm ein Orakel geweissagt hatte, dass er nur so lange am Leben bleiben werde, wie er das Fell besitze. Deshalb wird es nicht so einfach sein, es zu bekommen."

Jason verstummte. Ich dachte darüber nach, was er erzählt hatte. Sicher, das hörte sich spannend an. Ich spürte nahezu das prickelnde Gefühl im Körper, das immer kommt, wenn ich vor einer großen Aufgabe stehe. Deshalb fragte ich weiter:

"Und wo liegt Kolchis? Wie kommt man dorthin?"

"Siehst du, das weiß man nicht genau." Jason schüttelte den Kopf. "Aber die Skythen behaupten, dass hinter der Furt, wo Io, zur Kuh verwandelt, von Europa nach Asien ging, dass es hinter dieser Furt also ein großes Meer gäbe, an dessen anderem Ende Kolchis zu finden sei.
Deshalb habe ich Argos, dem besten Schiffsbauer in Thessalien, ja vielleicht in der ganzen griechischen Welt, den Auftrag gegeben, ein Schiff zu bauen. Das wird ein Boot, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Und es gibt auch gute Vorzeichen für den Bau, denn bevor ich noch von zu Hause wegfuhr, erzählte mir Argos, dass Athene selbst gekommen war und ihm Anleitungen zur Konstruktion gegeben hatte."

Das hörte sich ja gut an. Wenn einer der Götter seine schützende Hand über ein Projekt hielt, dann bestand ja eine gute Aussicht, dass es auch gelingen würde. Aber so ein Schiff würde wohl auch eine gute Mannschaft brauchen.

"Wieviele sollen denn mitkommen? Und hast du schon bedacht, wen du mitnehmen willst?"

"Im Schiff wird es Plätze für fünfzig Ruder geben", antwortete Jason und ich konnte nichts dagegen tun, dass mir ein erstauntes "ohhh" über die Lippen kam.

"Ich habe ja gesagt, dass es ein ganz außerordentliches Schiff werden soll", grinste Jason. "Wer mitkommen soll? Das kommt wohl ein wenig darauf an, wer mitkommen will, aber ich habe schon ein paar deftige Burschen zusammenbekommen."

"Wen, zum Beispiel?"

"Die meisten sind einstweilen noch vom Norden, weil ich ja erst jetzt auf dem Weg nach Süden bin. Aber Orpheus kennst du wohl? Und vielleicht Polyphemos von Larissa? Zetes und Kalais, beide sind Söhne des Nordwindes Boreas, haben auch zugestimmt, wie auch Antolycos und Eurytos, die Söhne des Hermes. Und noch ein paar, aber du siehst, dass es fast durchwegs erfahrene Männer sind, die sich schon einen Namen gemacht haben."

Ich war ziemlich beeindruckt. Es würde ja eine Ehre sein, den Auftrag mit diesen Leuten durchzuführen.

"Du hast nicht an Theseus gedacht?"

"Oh doch, verlass dich darauf! Aber ich weiß ja, dass ihr zwei befreundet seid, und wenn du ja sagst, wollte ich dich bitten, dass du mit Theseus sprichst, damit ich nicht den Umweg über Athen machen muss. Ich bin nämlich jetzt unterwegs nach Sparta, um Kastor und Polydeukes zu fragen."

"Polydeukes", entfuhr es mir. "Das ist lange her! Ich hatte ihn ja einst als Lehrer, wie auch Eurytos. Klar, dass es Spaß machen würde, bei einer solchen Reise mitzumachen! Aber..."

Ich unterbrach meinen enthusiastischen Wortschwall, weil ich plötzlich daran dachte, dass ich ja die Sorge um Hylas hatte. Meine eigenen Kinder waren noch zu klein, die waren noch immer mehr von ihrer Mutter abhängig als von mir, aber Hylas brauchte mich jetzt.

"Aber...?" Jason sah mich fragend an.

"Ja, schau, vor einem guten Jahr kämpfte ich gegen die Dryopen und da schickte es sich nicht besser, als dass ich ihren König, Thiodamandus erschlug. Dann hatte ich aber nicht das Herz, seinen Sohn Hylas sich selbst zu überlassen, deshalb nahm ich den Jungen mit und versprach ihm eine gute Erziehung."

"Wie alt ist denn dieser Hylas?"

"Er wird jetzt im kommenden Sommer fünfzehn. Das ist ja ein ziemlich wichtiges Alter für einen Jungen..."

"Aber nimm ihn doch einfach mit", schlug Jason vor. "Mit fünfzehn kann man schon ein Ruder manövrieren und eine solche Fahrt ist wohl die beste Erziehung, die ein junger Mann bekommen kann."

Jetzt zögerte ich nicht länger. Ich stand auf und hielt Jason meine Hand hin:

"Hier hast du ein Besatzungsmitglied, Kapitän."


© Bernhard Kauntz, Västerås 1999


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