DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Die Flucht


"Wir luden schnell die letzten Stücke auf die Argo und segelten im ersten Sonnenlicht ab. Der Hafen bei Kolchis wird von einer kleinen Bucht geschützt, deren Öffnung genau im Osten liegt, sodass uns die aufgehende Sonne blendete. Kaum hatten wir die Ausfahrt aus der Bucht erreicht, als ein Hagel von Speeren und Steinen unser Schiff traf. Aietes hatte fünf Schiffe halbkreisförmig aufstellen lassen, sodass sie jetzt unseren Weg blockierten. Jetzt war guter Rat teuer. Viele von uns waren schon beim ersten Angriff verletzt worden, mich hatte ein Pfeil in den Oberschenkel getroffen, hier, seitlich vom Knie."

Theseus zeigte mir eine noch rötliche Narbe am linken Bein, bevor er fortfuhr:

"Jason hatte sich hinter seinem Schild am Bug aufgestellt und schlug Aietes vor, Apsyrtos freizulassen, wenn wir freie Fahrt bekämen. Ein Hohngelächter und ein neuer Angriff waren die Antwort. Diesmal wurde Jason getroffen, von einem der Schiffe aus, das seitlich stand und so die Blöße hinter seiner Deckung ausnutzen konnte. Medea wurde zur Furie, als sie sah, wie ihr Geliebter zusammenbrach. Mit einem wilden Schrei ergriff sie das nächste Schwert, lief ohne Deckung zum Mast, wo wir ihren Bruder festgebunden hatten, und hieb ihm den Kopf ab, den sie gleich über die Reling ins Meer warf.

'Gut, dann hol ihn dir stückweise zurück', schrie sie zu ihrem Vater hinüber, während sie auf einen von Apsyrtos Armen eindrosch, um ihn vom Rumpf zu trennen."

Theseus schüttelte sich bei dieser Erinnerung. Achselzuckend sagte er:

"Vermutlich hat sie uns damit allen das Leben gerettet, denn der Geschoßhagel ließ wirklich ein wenig nach. Gleichzeitig stieß Aietes Schiff vor, die Teile des Königssohnes einzusammeln, um ihn begraben zu können. Medea übernahm auch das Kommando auf dem Schiff.

'Fahrt doch los jetzt', schrie sie, während sie an dem Leichnam weiterhackte. 'Seht ihr nicht die Lücke dort? Los, ihr Memmen, fahrt doch dort durch!'

Ich kann dir die Szene gar nicht beschreiben", sagte Theseus, sich wieder schüttelnd. "Das war kein Mensch mehr, der dort stand, über und über vom Blut ihres Bruders befleckt, rasend und wild, mit lodernden Augen, jetzt einen Arm, dann ein Bein beim Knie abtrennend. - Ich hatte sie ja nie gemocht, aber das hier war das Schrecklichste, das ich je gesehen habe.

Trotzdem hat sie uns durch diese Tat das Leben gerettet", wiederholte Theseus. "Denn es gelang uns wirklich, durch die Lücke durchzukommen, die Aietes Schiff geöffnet hatte. Dann, als wir freie Fahrt hatten, war die Argo den Kähnen der Kolcher klar überlegen, obwohl wir bei weitem nicht mit voller Kraft rudern konnten, weil wir so viele Verletzte hatten. Zum Glück erholten sich alle wieder nach und nach, sodass wir keinen Todesfall zu verzeichnen hatten."

Mein Freund schwieg eine Weile, vermutlich um sein inneres Gleichgewicht wieder zu finden. Ich dachte darüber nach. ob es gerechtfertig war, das Leben eines Menschen zu opfern, um dadurch fünfzig andere zu retten, aber ich konnte mich nicht entscheiden. Ganz unverständlich dagegen war mir, wie man den eigenen Bruder abschlachten konnte ... Nach einer Weile hatte sich Theseus gesammelt und erzählte weiter.

"Nachdem wir den Kolchern davongefahren waren, beschlossen wir, diesmal an der nördlichen Küste entlang zu rudern. Wir kamen gut voran und stießen schließlich auf die Mündung eines großen Flusses, der in östlicher Richtung weiterführte. Wir waren wohl etwas übermütig, als wir beschlossen, weiter flussaufwärts zu fahren. Aber die meisten unserer Wunden waren schon gut verheilt - und wir hatten schließlich auch noch das goldene Vlies mit uns. Vielleicht hofften wir auch, dass der Fluss nach Süden abbiegen würde, denn das hätte dann durchaus unserer generellen Richtung entsprochen, um heim zu kommen. Dazu kam noch, dass wir uns vermutlich schon ein gutes Stück im Flussdelta befanden, bevor wir überhaupt merkten, dass wir nicht mehr auf dem Meer fuhren. Warum auch immer, wir fuhren weiter stromaufwärts. Was für ein Fluss das war! Er war viel größer als irgendeiner unserer Flüsse. An seinen Ufern trafen wir eine Menge Hyperboräer verschiedener Stämme. Wenn wir sie richtig verstehen konnten, nannten sie den Fluss teils Ister, teils Duna, je nach Sprache. Wir gaben ihm den Namen Eridanus, nach dem hyperboräischen Flussgott. Die Menschen, die wir trafen, waren großteils ziemlich verschreckt, wozu die Argo viel beitrug. Die Bevölkerung dort stakte höchstens mit einem Floss auf dem Wasser herum, ein richtiges Schiff hatten sie noch nie gesehen.

Der Fluss wollte kein Ende nehmen. Aber uns hatte der Ehrgeiz gepackt und wir wollten ihn so weit wie möglich hinauffahren. Das gelang uns schließlich auch. Aber jetzt stellte sich die Frage, was wir nun tun sollten. Einige von uns wollten umkehren und den ganzen langen Fluss wieder stromabwärts fahren. Bei einem unserer Palaver mit den Eingeborenen stellte sich aber heraus, dass nur einen knappen halben Tagesmarsch weiter, hinter einem Bergkamm, ein Fluss in nord- südlicher Richtung verlief. Die Mehrzahl, darunter auch ich, entschied sich für den wahnsinnigen Vorschlag, die Argo dorthin zu transportieren."

Theseus grinste mich breit an.

"Heute würde ich das nicht noch einmal tun. Zwar bekamen wir von den Eingeborenen Hilfe, die Argo hinauf zu ziehen, zu rollen, zu schieben und zu stoßen, aber du kannst dir keine Vorstellung davon machen, was das für Arbeit war! Und dann begann das richtige Elend erst, als wir sie auf der anderen Seite den Berg hinunter bringen mussten, ohne dass sie uns entglitt und irgendwo zerschellte. Bergauf hatten wir Baumstämme als Rollen verwendet, aber bergab war das keine gute Idee. Nun, wir schafften es, die Argo wohlbehalten zum nächsten Fluss zu bringen und fuhren dann nach Süden. Anfangs sah das recht gut aus, denn es ging jetzt südwestwärts, der Heimat entgegen. Dann aber bog auch dieser Fluss nach Osten um, sodass wir letztendlich doch noch weiter weg kamen.

Aber eines kann ich dir sagen: die Landschaft war überirdisch schön. Die Berge rings um uns wurden immer höher, auch mitten im Sommer waren ihre Gipfel schneeweiß, während es im Tal grünte und so üppig war, wie man es sich kaum vorstellen kann.

Natürlich hatte auch dieser Fluss ein Ende. Wieder hieß es jedoch, dass hinter einem Bergpass ein anderer Fluss nach Süden führen solle. Also spuckten wir nocheinmal in die Hände und brachten die Argo auch diesmal über den - diesmal noch höheren - Berg. Dort führte tatsächlich wieder ein Flüsschen südwärts und nun ging es stromabwärts, der Fluss musste also irgendwo münden. Interessant ist, dass die Stämme an den letzten beiden Flüssen denselben Namen für sie verwendeten, nämlich etwa "Rene", obwohl es ganz klar um zwei verschiedene Flüsse ging."

Wir hatten jetzt auf unserer Wanderung auch gerade einen kleinen Hügel erklommen und sahen in der Ferne Athen liegen.

"Den Rest unserer Reise erzähle ich dir dann beim Abendessen zu Hause", sagte Theseus. "Vorher möchte ich dich aber noch von deiner Schuld reinwaschen. Komm, wir beeilen uns ein wenig, dann sind wir gleich daheim."


© Bernhard Kauntz, Västerås 2005


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